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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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zitternd an der Wand.
    »Ihr seid so tapfer
...
Herr«, flüsterte ich, fasste nach meinem Schal und zog ihn über meine zerrissene Bluse.
    »Ihr solltet nicht ohne Begleitung an einen solchen Ort kommen«, sagte er besorgt. »Lasst mich Euch heimbringen, oder dorthin, wo Ihr Quartier bezogen habt.«
    »Ich danke Euch, Herr«, sagte ich und wollte nach seiner ausgestreckten Hand greifen, doch diese Bewegung ließ eines der Löcher in meinem Kleid weiter aufklaffen, und so zog ich meine Hand schüchtern zurück.
    »In diesem Zustand solltet ihr besser nicht auf die Straße gehen«, sagte er in väterlichem Tonfall.
    »Ich habe Nadel und Faden dabei«, stammelte ich. »Wenn ich eine ruhiges Fleckchen hätte, wo ich mein Kleid in Ordnung bringen kann, könnte ich das im Nu erledigen.«
    »Ich wohne in dieser Taverne«, sagte er zögernd. »Würdet Ihr mir gestatten, Euch auf mein Zimmer zu bringen? Ich gebe Euch mein Wort, dass Ihr Euch dort in Sicherheit befindet!«
    |46| So hatte ich es eigentlich nicht geplant. Ich wollte ihn in ein Zimmer locken, das ich zu diesem Zweck gemietet hatte, und ihn irgendwie zum Bleiben veranlassen. Aber das Schöne an solchen Abenteuern war, dass sie nach einer Weile ein Eigenleben annahmen. Ich konnte meine Stichwörter aufgreifen, wie sich die Gelegenheit ergab. Das zerrissene Kleid erleichterte in diesem Fall alles. Nicht nur, dass ich auf diese Weise in sein Zimmer kam, was bei jedem Mann einen Vorteil darstellt, nein, ich konnte auch noch ganz unschuldig mein Kleid ausziehen.
    Ich blickte ihm in die Augen und lächelte. Vertrauensselig. Vielversprechend. »Ihr seid mein Retter!«, sagte ich. »Ich vertraue Euch mein Leben und meine Ehre an.«

|47| Iwan
    Leschys Stimme klang ernst, als er das erste Rätsel stellte:
    »Ein zarter Korb, ich schimm’re im Licht.
    Doch bin ich stark – Kämpfen lohnt nicht!
    Je länger du dich wehrst, desto stärker ich fass,
    und ich entfalte mich, wenn ich dich lass.«
    Iwan schwieg zunächst und dachte an all das, was er über dieses Rätselspiel erfahren hatte.
    »Es gibt Regeln dafür«, hatte ihm der Wolf gesagt. »Zum einen ist die Antwort stets ein alltägliches, ganz gewöhnliches Ding, das jeder kennt. Zweitens gibt es für jedes Rätsel nur eine einzige Lösung, die auf jede Zeile zutrifft. Und drittens, damit es nicht zu einfach wird, sind viele der Rätsel vom Wortlaut her verwirrend! Denke also gut nach, bevor du antwortest, Junge!«
    Die Warnung erschien ihm überflüssig. Iwan war ohnehin gewillt, so angestrengt nachzudenken, wie es überhaupt nur möglich war, um nicht das Schicksal Nikolas des Weisen teilen zu müssen. Doch wie er es auch drehte und wendete, es schien nur eine einzige mögliche Antwort zu geben.
    »Spinnennetz«, sagte er.
    Leschy sah ihn verschmitzt an. Doch tief in seinem Blick lag auch Enttäuschung. »Als Narr bezeichnet er sich, dieser Junge«, dachte er laut nach. »Ein raffinierter Narr.« Seine Augen leuchteten im schaurigen Dämmerlicht des Moors. |48| »Ich beginne immer mit dem einfachsten Rätsel«, fügte er hinzu.
    Iwan war klar, dass dies nicht der Wahrheit entsprechen musste. Und doch wusste er natürlich auch, dass jedes Rätsel vermutlich schwerer als das vorhergehende sein würde. Leschy spielte gern mit Menschen. Und er verlor nicht gern.
    »Also höre zu, närrischer Junge«, sagte Leschy nun.
    »Ich fließe wie ein Fluss und schwemme wie das Meer,
    und kreise und kreise und flieh doch nimmermehr.
    Mich einzuschließen ist das Ziel deines Lebens,
    denn flieh ich, kommt der Tod, und alles war vergebens.«
    Iwan grübelte angestrengt. Gewöhnliche, alltägliche Dinge, hatte der Wolf behauptet. Welches gewöhnliche, alltägliche Ding konnte fließen wie ein Fluss und den Tod bedeuten, wenn es entkam? Wasser?
    Aber es war ja wohl kaum das Ziel eines Lebens, Wasser einzusperren. Und natürlich stimmte es auch nicht, dass Wasser niemals entfloh. Vielleicht meinte Leschy das Meer?
    Viele Erzähler sprachen vom Meer, einem großen Wasserlauf ohne Küsten, das zu märchenhaften Königreichen und magischen Landen führte. Und gelegentlich sprachen die Erzähler auch vom Ozean, in welchem sich die Meere sammelten und den Rand der Welt umspülten. Natürlich würde es den Tod bedeuten, wenn der Ozean jemals freikam und die ganze Welt überschwemmte.
    Aber ein gewöhnliches, alltägliches Ding? Wohl kaum.
    Ich fließe wie ein Fluss und schwemme wie das Meer, und kreise...
Was konnte das nur sein?
    Iwan

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