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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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getötet, Kaschtschej?«, kreischte er, und die Luft erzitterte bei diesem Klang. »
Du hast sie ermordet? «
    Er war schneller als alles, was ich bisher erlebt hatte. Schneller sogar als der Graue Wolf selbst, und natürlich viel schneller als Kaschtschej. Er flog wie ein schwarzer Pfeil von seinem Ast und riss die Nadel aus dem Maul des Wolfs. Dann erhob er sich hoch in die Luft, zerbiss sie in zwei Hälften und ließ sie – nun mit einer qualvoll langsamen Bewegung – in die wirbelnden Wasser des Opferteichs fallen.
    Der Boden erbebte unter einem grollenden Donnern. Das Beben war so stark, dass es meine Sinne betäubte. Ich sah, wie mein Vater   – Kaschtschej – sich wand und verschmorte, wie er seine Gestalt verlor und von einem dunklen, gut aussehenden Mann zu einer verrenkten Leiche wurde, und dann, nach einer Anzahl weiterer Wandlungen, zu etwas völlig Unmenschlichem. Sein Körper zerfiel schließlich zu Staub und wurde vom Wind davongeweht, bis nichts mehr von ihm übrig war.
    Bringt Tod dem Unsterblichen.
Die Nadel des Todes zu zerbrechen – das war das Einzige, was den unsterblichen Zaren Kaschtschej zu töten vermochte. Die Weissagung hatte sich erfüllt. Meine gesamte Welt verschwand in einem irrwitzigen Wirbel von Staub, Schmerz und ewigem Donnerhall.
     
    |234| Ich erwachte, als ich sanfte Hände auf meiner Wange spürte, als mich jemand in den Armen hielt und meinen schlaffen Körper stützte. Ich war blind und empfand keinerlei Gefühl. Ich war tot. Ich war ein Vogel, der hoch über der Liebe fliegt, für immer außerhalb ihrer Reichweite. Ich war eine Taube, Tochter eines weisen Raben und einer wunderschönen Maid, die von ihrem Liebsten verraten wurde. Ich war die von Kupalo erwählte Herrin, und ich vermochte nicht zu fühlen.
    Eine Stimme wisperte etwas in mein Ohr, wie die Halme in den Getreidefeldern und Kornblumen an einem strahlenden Sommernachmittag. Diese Stimme brachte mir ganz langsam ein neues Bewusstsein meines Körpers, der schlaff in den Armen einer von Leben erfüllten Person lag, die ihn vom Zusammenbrechen abhielt. Diese Stimme brachte mir langsam meine Sinne zurück, einen nach dem anderen, und so fühlte ich den kühlen Morgenwind auf meinem Gesicht, hörte das Rascheln von Blättern und das leise Murmeln des fließenden Wassers. Ich vermochte noch nicht zu sehen, doch erkannte ich rasch, dass meine Augen geschlossen waren, dass sie sich für immer geschlossen hatten, unfähig, das Sterben eines Mannes mitanzusehen, den ich für meinen Vater gehalten hatte, der meine ganze Welt gewesen war und der mich fühlen ließ, dass mein Wiedererwachen ins Leben in Wirklichkeit ein Erwachen in den Tod war.
    »Marja«, rief mich die Stimme, und es war nicht die meines Vaters, es waren nicht meines Vaters Hände, die mich streichelten, die mit ihren sanften Bewegungen all meinen Schmerz verfliegen ließen. Ich erkannte, dass ich lebte. Ich existierte tatsächlich.
    Iwan sprach zu mir. Ich hörte ihn wie aus weiter Ferne. »Marja«, sagte er. »Jetzt ist alles gut! Sobald es dir besser geht, werde ich abreisen. Ich habe nicht gewollt – nicht gewollt, dass du gezwungen bist, mich zu heiraten. Das
...
das |235| solltest du wissen. Du musst es nicht tun. Du bist frei. Ich werde niemals mehr etwas tun, was dich verletzt! Und – es tut mir leid! Ich wollte dir gewiss keine Schmerzen bereiten.«
    So sprach er mit mir. Ein Teil meiner Selbst verstand, was er sagte. Der andere Teil wollte nichts lieber, als sich vom Klang seiner Stimme beruhigen lassen, von seiner Hand, die meine Wange streichelte, von seinem Arm, der mich umfing, als halte er ein Kind. Ich hörte seine Worte, und sie ergaben auch einen Sinn, aber mein Herz vermochte ihnen nicht zu folgen. Später würde es an der Zeit sein, über solche Dinge nachzudenken, mich zu entscheiden, zu bedauern. Vielleicht würde ich ihn dann besser kennen lernen, diesen Jungen von uralter Weisheit, der sich einen Weg in mein Herzen geschmolzen hatte wie ein Frühlingssonnenstrahl, der sich durch Wintereis schmilzt.
    Später.
    Alles, was ich in diesem Augenblick wollte, war, mich in seiner Wärme zu verlieren und ihm zu lauschen, endlos dieser beruhigenden Stimme zu lauschen.
    Der neue Tag dämmerte bereits. Aljona war fort, doch die anderen waren geblieben. Außer Kaschtschej natürlich.
    Der Graue Wolf saß am Ufer. Die aufgehende Sonne schien auf seinen Pelz. Er beobachtete uns mit einer Miene, die ich noch nicht deuten konnte. Ich sah den

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