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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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lang blickte er den Jungen bittend an. Dann, urplötzlich, verzog sich sein Gesicht zu einer lachenden Grimasse, und er stieß einen langen, gurgelnden Schrei aus. Nur ein sehr kranker Mann würde diesen Laut für ein Lachen halten, dachte Iwan. Die geisterhafte Miene Nikolas des Weisen zeigte nichts als grauenhafte Pein. Seine Grimasse ließ diese noch schlimmer erscheinen.
    »Das reicht!«, befahl Leschy. Er schnippte mit den Fingern, und der Kikimora war verschwunden. »Ich glaube, er mag dich«, fügte der Waldgeist hinzu und warf Iwan dabei einen weiteren schelmischen Blick zu.
    Iwan holte tief Luft. »Spielen wir jetzt, oder nicht?«, fragte er.
    Leschy musterte ihn einen Augenblick lang. Unter den buschigen Brauen glitzerten seine Augen in ihren tiefen Höhlen. »Was könnte Iwan der Narr sich so sehnlich wünschen, dass er es riskiert, hierherzukommen und mit dem alten Mann zu spielen?«, überlegte er laut. »Was könnte so wichtig sein, dass dieser Narr von Junge sich nicht einmal vor Nikola dem Weisen fürchtet, einem gelehrten Mann, der in mein Moor kam und glaubte, er könne jedes Rätsel der Welt lösen?«
    |38| »Ich werde Euch sagen, was ich will«, versprach Iwan. »Nachdem ich Eure Rätsel gelöst habe, Väterchen.«
    Leschy schmunzelte erneut. »Du musst ja einen schlimmen Vater haben, Junge«, sagte er, »wenn du den alten Leschy mit ihm vergleichst.«
    Mein Vater
, dachte Iwan.
Mein lieber, einfältiger Vater. Du hast keine Ahnung, alter Mann.
    Er wartete ab.
    »Irgendwie mag ich dich, mein närrischer Junge«, äußerte sich Leschy endlich. »Ich gebe dir die Chance, einen Rückzieher zu machen, wenn du das willst.«
    Iwan warf ihm einen lauernden Blick zu. »Hast du Angst, zu verlieren?«, fragte er.
    Der Waldgeist schwieg einen Moment lang. Er schmunzelte nicht mehr. »Also gut«, sagte er dann mit ernster Stimme, ganz anders als im Augenblick zuvor. »Höre dir dein erstes Rätsel sehr genau an. Ich erzähl es dir nur ein einziges Mal.«

|39| Marja
    »Es ist Zeit für dich, auf die Jagd zu gehen«, sagte ich dem Raben.
    Er verstand mich ohne weitere Worte. Und es
war
ja an der Zeit. Beinahe.
    Ich beobachtete, wie seine schwarze, geflügelte Gestalt mit der vom Mondschein erfüllten Luft außerhalb des Turmfensters verschmolz, und ging zum Spiegel zurück. Tief durchatmend glättete ich mein Kleid und bereitete mich seelisch auf die bevorstehende Aufgabe vor.
    »Zeige mir mein Spiegelbild«, befahl ich dem Spiegel.
     
    Mit Gefühlen, insbesondere mit der Liebe, kann man mich nicht binden. Mein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, ihre zerstörerische Macht von mir fernzuhalten. Ich bin bereit, alles zu tun, um frei zu bleiben. Und für einen Fall wie jenen, dem ich mich nun gegenübersah, habe ich ein perfektes Rezept. Wenn ich merke, dass ich mich auf gefährliche Weise in Gedanken an einen Mann verstricke, teile ich das Bett mit einem anderen.
    Ich kenne meinen Feind gut genug, um die Zusammenhänge zu verstehen. Liebe ist etwas Sinnliches. Wenn man sich verliebt, bindet man sich vor allem durch die Abhängigkeit von den Berührungen des Mannes, die jeden Nerv im Körper einer Frau zum Glühen bringen. Man begehrt einen Mann eher physisch denn geistig – mehr als die meisten zugeben würden. Deshalb muss man, will man der Liebe widerstehen, das Begehren von Körper und Geist trennen, sie |40| separat bekämpfen und damit beide schwächen. Der erste Schritt dazu besteht darin, mit einem anderen Mann zu schlafen.
    Das bringt eine Frau zunächst aus dem Kurs und gibt ihr ein eigenartiges Gefühl von Dualität. Man schwebt zwischen Himmel und Erde, wird von den Gefühlen, die von allen Seiten her wie Windstöße auftreffen, hin und her geweht. Das Objekt der Liebe verliert sich in einem Wirbel von Armen, Körpern und Liebkosungen, die jedem Mann auf der Welt gehören könnten. Liebe bedeutet Schmerz, und mein einfaches Rezept gestattet es, diesen Schmerz zu betäuben, bis man sein Leben wieder im Griff hat. Es wirkt Wunder.
     
    Ich benötigte jemand Neues. Jemanden, den ich noch nie zuvor getroffen hatte, einen von draußen, der sich durch meinen Rang nicht einschüchtern ließ. Er musste kräftig sein und erfahren, ein echter Charmeur, der mich diese unnatürliche Schwäche, diesen Kornblumenzauber vergessen ließ. So kurz vor der Sonnwendfeier konnte ich keinerlei Risiko eingehen.
    Um mir einen Mann außerhalb des Schlosses zu suchen, musste ich wie eine ganz gewöhnliche junge Frau

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