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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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seufzte.
Lass keine Panik aufkommen
, mahnte er sich innerlich.
Die Angst ist dein Feind! Darauf hofft Leschy ja nur. Die Angst macht aus dir einen Kikimora!
    Halt! Konzentriere dich!
    |49| Fließen. Schwemmen. Kreisen. Und dennoch kein Wasser. Was sonst hat all diese Eigenschaften?
    Iwan warf einen Blick auf Leschy. Der Waldgeist war damit beschäftigt, mit einem knorrigen Finger an einem der Baumpilze herumzubohren, die den Stamm der umgestürzten Birke säumten. Bei jeder Bewegung bildete sich unter seinem Finger eine Delle. Iwan meinte, Bewegungen dort auszumachen. Er sah genauer hin und wandte sich angeekelt ab.
    Der Baumpilz war in Wirklichkeit eine bunt schillernde, wimmelnde Masse von Würmern, die schwach im Schein des aufgehenden Mondes glitzerten. Sie tauchten unter die weiße Birkenrinde, verschwanden und erschienen ein Stück entfernt wieder, wie Taucher, die unter Wasser schwimmen und und ab und zu den Kopf herausstrecken, um sich zu orientieren.
    Iwan trat von dem Stamm zurück. Ein Teil der Rinde brach ein, und eine Unmenge von Würmern kroch heraus und ergoss sich über die Moorinsel. Dann verschwanden sie in das dunkel schimmernde Sumpfwasser.
    Leschy kicherte. »Wie kommst du mit dem Rätsel voran, kluger Junge?«, wollte er wissen. »Die Zeit ist um, ob du fertig bist oder nicht!«
    Iwan atmete tief ein.
Zeig deine Angst nicht
, mahnte er sich selbst noch einmal.
Leschy zehrt von der Angst. Also – aber was soll ich machen?
    »Komm schon, Junge!«, forderte Leschy ihn auf. »Verlieren ist keine Schande. Denk an all den Spaß, den wir hier in meinem Moor miteinander haben können! Nur du und ich, ja? Du musst dem alten Mann nur ein Wort sagen!«
    Er strahlte und schob sich an dem Stamm entlang auf Iwan zu. Zum ersten Mal bemerkte Iwan die Kälte, die der Waldgeist ausstrahlte. Oder war die vorher noch nicht da gewesen?
    |50| Ein Stich an seiner Hand ließ ihn hinabblicken. Ein Moskito, vielleicht derselbe, der ihn vorher schon geärgert hatte, nutzte seine Chance, da sich Iwan gerade nicht rührte, und saugte fleißig. Iwan erschlug das lästige Insekt. Ein kleiner Blutfleck blieb auf seiner blassen Haut zurück.
    Er hob die andere Hand, um sich das Blut abzuwischen, und hielt inne.
    Mich einzuschließen ist das Ziel deines Lebens.
    Aber natürlich! Was für ein Narr er doch tatsächlich war, so lange darüber nachzugrübeln.
    »Blut«, sagte er.
    Leschy legte den Kopf schräg. »Schau mal an«, meinte er. »Wie nachlässig die Menschen doch sind, wenn sie jemanden mit einem Spitznamen versehen. Wenn ich mich recht erinnere, ereilte unseren guten Nikola den Weisen das Schicksal bei genau diesem Rätsel. Er plapperte immerzu etwas von einem Ozean. Dabei weiß ich nicht einmal, was ein Ozean ist
...
Blut. Hmmmm.«
    Er sah zu einer kleinen Tanne hinüber, die sich aus dem Moor erhob. Es gab einen kaum hörbaren Laut, als hole jemand Luft, und dann verwelkte der Baum vor Iwans Augen. Die saftigen grünen Nadeln färbten sich erst gelb und dann braun, und schließlich fielen sie ab und hinterließen Zweige, so kraftlos und dürr wie die Hände einer alten Frau. Ein kaltes Glitzern lag in Leschys Augen, während er zusah.
    Anschließend wandte er sich an Iwan und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »In Ordnung, Iwan der Narr mit dem irreführenden Spitznamen«, sagte er. »Da du so gut im Rätselraten bist, werde ich dir nun mein schwerstes aufgeben. Niemand hat es bisher lösen können. Ich glaube, ich kann mich nicht einmal selbst an die Lösung erinnern.« Er kicherte.
    Iwan vermied es, eine Reaktion zu zeigen. Seinen Gegner einzuschüchtern, war eine uralte und sehr wirkungsvolle |51| Taktik, die Leschy häufig gebrauchte. Dagegen setzte man sich am besten zur Wehr, indem man gar nicht darauf reagierte. Soweit man dazu in der Lage war.
    Iwan lauschte den Worten des Waldgeistes.
    »Ich bin immer willkommen, ein Schatz ohnegleichen,
    doch mancher mich hasst und wünscht, ich würd’ weichen.
    Entscheide ich dann, zu gehen ist’s Zeit,
    kämpfst du um mich, bettelst, noch sei’s nicht so weit.«
    Iwan holte tief Luft. »Nur
eine
Antwort«, hatte der Wolf gesagt. Und das bedeutete unter anderem, dass es eine Antwort gab.
    »Immer willkommen«, und dennoch »mancher mich hasst«. Was konnte das sein? Ein Kind?
    Den meisten Menschen, die er kannte, waren Kinder willkommen, aber manch einer würde alles tun, um zu vermeiden, ein Kind zu bekommen. Wenn beispielsweise eine Familie schon zu

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