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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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gequälte Gestalt Nikolas des Weisen erschien wieder. Der wilde Blick des Kikimora brannte sich durch Iwan hindurch.
    »Nikola wird dir einen sicheren Weg durch den Sumpf weisen«, sagte Leschy. »Das tut er sicher gerne. Nicht wahr, mein Lieber?«
    Unter Leschys starrem Blick blieb Nikola das Lachen in der Kehle stecken.
    »Und jetzt weg mit euch!«, befahl Leschy. »Husch!«
    Er trat hinter den Birkenstamm in den Schatten des Tannenwäldchens. Iwan vermochte keine Bewegung zu entdecken. Dennoch sah es einen Augenblick später so aus, als habe es hier niemals mehr als Sträucher gegeben, die wegen des Moorwassers, das ihre Wurzeln umspülte, kränklich wirkten. |57| Keiner wies noch irgendeine Ähnlichkeit zum Pfaffenhütchen-Strauch auf.
    Der Waldgeist war so leise verschwunden, wie er aufgetaucht war. Nur die kleine, verschrumpelte braune Tanne und der rote Fleck eines zerquetschten Glühwürmchens an Iwans Hand zeugten noch von seiner Anwesenheit. Hastig rieb er ihn weg. Dann wandte er sich ab und folgte der geisterhaften Gestalt Nikolas.
    Zuerst war es leicht, einen trockenen Pfad auszumachen. Als sie tiefer in das Moor hineinkamen, begann Nikola, von einem trockenen Stück Land zum nächsten zu springen. Wie Inseln erhoben sich diese Flecken aus dem Moor. Iwan machte die Sprünge Nikolas genau nach. Rund um sie herum glitzerten dunkle Wasserlachen zwischen den Büscheln spröden Riedgrases.
    Iwan war klar, dass Nikola selbst keineswegs so durch das Moor springen musste, aber Leschy hatte befohlen, ihm den Weg zu zeigen. Diesmal war er froh über den Ehrenkodex der Unsterblichen und dass der Waldgeist ihm getreu Folge leistete.
    Die Insel erhob sich vor ihnen wie ein Geisterschiff aus dem mondbeschienenen Nebel. Die hohe Esche in der Mitte ragte wie ein Mast aus dem Moospolster. Kaum, dass Nikolas Füße die Insel berührten, verschwand er auch schon nach einem letzten Blick auf seinen Nachfolger, der mehr Glück gehabt hatte als er. Iwan tat sein Bestes, um die Sehnsucht im gequälten Blick Nikolas nicht zu beachten. Er konnte nichts daran ändern.
    Das flackernde Moorlicht, dem sie gefolgt waren, bewegte sich auf Iwan zu. Aus der Nähe war der kränklich blaugrüne Lichtschimmer deutlich erkennbar, so anders als die Gelb- und Rotschattierungen eines echten Feuers. Es erschien sehr blass, gegen das Mondlicht war es kaum zu erkennen, und Iwan wurde bewusst, dass es nicht wirklich |58| flackerte. Das sah nur so aus, wenn sich seine Trägerin bewegte.
    Sie trat auf ihn zu. Ihre geisterhafte Gestalt gewann mit jedem Schritt an Substanz. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Oksana. Bist du gekommen, um mit mir zu spielen?«
    Eisige Kälte breitete sich in Iwans Brustkorb aus und hielt ihn in ihrer Gewalt. Bei all den Schrecken des Moors: Damit hatte er wirklich nicht gerechnet
    »Komm!«, lockte sie ihn. »Ich habe so gerne Gesellschaft. Ich bin gar nicht so furchtbar, ehrlich!«
    Ihr Götter
, dachte Iwan.
Nein! Gute Götter! Bitte das nicht. Doch nicht ein
Kind!
    Sie wirkte nicht älter als fünf. Ihre großen Augen in dem blassen Gesicht schienen ein Eigenleben zu führen. In ihren Tiefen lag nichts Kindliches verborgen – nur Schmerz, so viel Schmerz
...
    »Ich komme, um das Netz zu holen«, hörte Iwan sich sagen. »Leschy schickt mich.«
    Sie schürzte die Lippen. »Ich dachte, du würdest wenigstens meinen Spitznamen wissen wollen«, sagte sie. »Die anderen fragen mich immer danach.«
    Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch in ihren Augen stand dieselbe Qual, derselbe Wahnsinn wie bei Nikola. Doch es war tausendmal schlimmer, dies in den Augen eines Kindes zu finden!
    Iwan schluckte. Sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Also gut«, sagte er, wobei ihm nur vage bewusst war, wie heiser seine Stimme klang. »Wie lautet denn dein Spitzname?«
    »Aha!« Sie hüpfte ein paar Schritte zurück. Ihr Mund verzog sich zu einer Grimasse, die als Lachen durchgegangen wäre, hätte es da nicht diesen Ausdruck in ihren Augen gegeben. »Ich – ich habe keinen! Ich habe keinen Spitznamen!« Sie warf den Kopf in den Nacken und heulte los. Es |59| war der gleiche Laut, dem Iwan in den letzten Stunden als »Gelächter« gelauscht hatte. Das Gelächter der Kikimoras.
    Er wartete darauf, dass sie aufhörte, wobei er sich alle Mühe gab, nicht wegzublicken. »Also«, sagte er schließlich leise, »warum geben wir dir dann keinen?«
    Sie blickte ihn staunend an. Einen Augenblick lang wirkten ihre Augen fast

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