Die Sonnwendherrin
roch nach Kräutern. Im Schein einer Kerze, die in einer Tonschüssel mit Wasser schwamm, konnte Iwan erkennen, dass unzählige Bündel getrockneter Kräuter von den kaum sichtbaren Deckenbohlen hingen; viele waren an Wäscheleinen aufgehängt, die den gesamten Raum wie ein Spinnennetz gerade über Kopfhöhe durchzogen. Es war etwas mühselig, sich einen Weg durch das Dickicht der trockenen Stängel zu bahnen, deren Geruch ihn schwindeln machte. Doch die trockene Wärme |16| vom Ofen her war ihnen nach der feuchten Kälte draußen sehr willkommen.
»Es ist schon lange her«, sagte Gleb, der Kräuterkundige. Er sprach noch immer mit dem Wolf, wandte jedoch in diesem Augenblick seinen Kopf, um Iwan anzusehen. In seinen dunklen Augen stand sanfte Neugier. Es kam Iwan eigenartig vor, dass ihn der Mann so anblickte. Nichts an einem jungen Mann mit blauen Augen, strohblondem Haar und einfacher Bauernkleidung hätte normalerweise Aufmerksamkeit erregt. Die Dörfer in sämtlichen Königreichen waren voll von solchen jungen Männern. Doch in diesem einen Jahr, in dem er mit dem Wolf durchs Land gestreift war, hatte sich Iwan an viele eigenartige Dinge gewöhnt. Ein dürrer alter Mann, der sich so vertraut mit dem Wolf unterhielt und Iwan wie ein seltenes Tier beäugte, war mit Sicherheit nicht das eigenartigste darunter.
»Es war verdammt schwierig, dich aufzuspüren, Alter«, grollte der Wolf. »Ich hätte beinahe aufgegeben, wenn dieser Junge hier nicht einem nichtsahnenden Dorfbewohner deinen Aufenthaltsort entlockt hätte. Wer hätte gedacht, dass du dein Versprechen brechen und dich wieder im Königreich des Verdammten ansiedeln würdest?«
Die Augen des alten Mannes funkelten. »Du meinst das Königreich des Unsterblichen«, sagte er. »Oder, wie die Menschen hier sagen
..
.
«
»
...
des Untoten«, beendete der Wolf den angefangenen Satz. »Kennen wir. Erspare uns deine geistreichen Erklärungen.«
»Ach so«, Glebs Blick fiel wieder auf Iwan. Dieses Anstarren wirkte zermürbend. »Du hast dir also einen neuen Helden zugelegt.«
»Ja«, bestätigte der Wolf.
Gleb wandte sich ihm zu. Seine Augen funkelten. »Eine eigenartige Wahl«, sagte er. »Anders, als ich erwartet hätte.«
|17| »Ich denke«, sagte der Wolf, »was du erwartetest, hätte den Anforderungen nicht genügt, Alter. Schau mal, was du erwartetest, ist nichts anderes als das, was jeder erwartet hätte.«
Gleb warf ihm einen langen Blick zu. »Kannst du nicht einfach aufgeben?«, fragte er.
»Du weißt doch, dass ich das nicht kann!«
»Ich habe aufgegeben.« Eine eigenartige Mischung von Gefühlen lag in Glebs Stimme. Zurückhaltung. Bitterkeit. Schmerz.
»Es war ein schwerer Verlust«, sagte der Wolf. »Aber ich habe mir einen anderen Kräuterkundigen gesucht. Und der hat diesen Jungen von den Toten zurückgeholt. Jetzt stecken wir zu dritt in dieser Sache.«
»Und trotzdem«, stellte Gleb fest, »seid ihr zu mir zurückgekommen. Was wollt ihr?«
Der Wolf bewegte seinen Rücken näher an den Ofen heran. Das Flackern hinter der Ofenklappe ließ sein graues Fell wie Bernstein schimmern. »Der Junge will etwas über die Sonnwendherrin erfahren«, sagte er. »Und ich glaube, er hat Hunger. Er hat eigentlich immer Hunger.«
An Essen hatte Iwan überhaupt noch nicht gedacht. Aber jetzt, da der Wolf es erwähnte, spürte er plötzlich seinen leeren Magen. Seine letzte Mahlzeit hatte er bei seinem Gastgeber im vorigen Dorf bekommen. Und eine zwanzig Werst weite Wanderung durch den Wald des Leschy war eine ziemlich lange Wanderung für einen Nachmittag.
»Was willst du wissen?«, fragte Gleb, und zum ersten Mal wandte er Iwan seine volle Aufmerksamkeit zu.
»Ich möchte sie sehen«, sagte Iwan. Unter diesem intensiven Blick wurde er unsicher. »Und mit ihr sprechen.«
Gleb stand auf, fasste in den oberen Teil des Kachelofens und zog ein in Tuch gehülltes Bündel heraus. Er legte es auf die Ofenbank und entfaltete vorsichtig das Tuch. Es war eine warme Kohlpastete.
|18| »Du musst zu ihrem Vater gehen,
..
.
«, sagte er zögernd.
»Iwan«, ergänzte der Wolf.
In die dunklen Augen kam plötzlich Interesse. »Iwan«, wiederholte Gleb abwesend. Er brach ein Stück von der Kruste der Pastete ab und bedeutete Iwan, sich zu bedienen.
Die Pastete war saftig und schmeckte ein wenig süß. Eier steckten in der heißen Kohlfüllung. Iwan hatte so etwas nicht mehr gegessen, seit er von zu Hause fortgegangen war.
»Hat dir der Wolf nichts gesagt?«,
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