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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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blickte mich mit seinen Kornblumenaugen groß und staunend an. Sein strohblondes Haar stand vor Überraschung ab.
    Ich bin durchaus daran gewöhnt, dass fremde Männer so auf mich reagieren. Zu lieben ist mir nicht gestattet, aber an meinem Aussehen ändert das nichts. Männer aus allen neununddreißig Königreichen kommen und halten um meine Hand an. Sie glauben, meine wichtigste Eigenschaft sei die Schönheit. Narren!
    Einer meiner Wächter hob seine Peitsche, doch ich hielt ihn mit einer Geste zurück, bevor mir selbst klar war, warum.
Weil dieser Junge so naiv und hilflos ist
, redete ich mir ein. Ich sollte so etwas sein lassen.
    Und dann öffnete ich den Mund und sprach ihn an, bevor ich über die Konsequenzen nachdenken konnte. Ich sprach ihn direkt an!
    »Du stehst mir im Weg!«, sagte ich zu ihm. Ich bemühte mich, streng zu klingen, wie immer, wenn ich mit dem gemeinen Volk sprach. Doch er zeigte keine Furcht. Stattdessen lächelte er wie ein Kind, dem man Süßigkeiten anbietet.
Und dann antwortete er mir!
    |27| »Du bist wunderschön!«, sagte er.
    Seine Stimme war so klar und durchdringend, dass seine Worte über den totenstillen Platz hallten, obwohl er sehr leise gesprochen hatte. Es lief mir kalt den Rücken hinunter.
    Weitaus beeindruckendere Männer als er hatten dasselbe zu mir gesagt, doch ihre Worte hatten mir nie mehr bedeutet als die Bestätigung einer wohlbekannten Tatsache. Sie hatten niemals ein solches Gefühl in mir ausgelöst.
    Sie hatten mich niemals
fühlen
lassen.
    »Wie heißt Ihr, schöne Maid?«, fragte er.
    Schöne Maid. Einfach so. Er beachtete weder die Wächter und ihre Peitschen noch den Wagen und die zur Seite weichende Menge. War er zu dumm, um das alles zu bemerken?
    Und dann beging ich meinen zweiten Fehler. Ich sprach mit ihm und erkannte nicht, wie gefährlich es war, überhaupt eine Reaktion zu zeigen. Dieses dummen Dorfjungen wegen öffnete ich einen Spalt in meiner Verteidigungsmauer. Ich nannte ihm meinen vollen Titel, um diese Frage ein für alle Mal zu klären: »Ich bin Marja Zarewna, Sonnwendherrin, Tochter von Zar Kaschtschej, dem Unsterblichen, dem Herrn des Neununddreißigsten Königreiches.«
    »Kann ich Euch in Eurem Schloss besuchen?«, fuhr er fort. »Ich würde gerne mit Euch sprechen.«
    Es waren seine Augen, die mich anzogen. In ihrem Kornblumenblau lagen so viel Wärme und eine so spitzbübische Vitalität und Tatkraft, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ein Staunen wie das eines Kindes lag in diesen Augen. Und dennoch verbarg sich in ihren Tiefen auch Trauer. Ich wollte ihm nah sein. Ihn berühren.
    Doch dafür hatte ich keine Zeit.
    Ich zwang mich wegzusehen und blickte an ihm vorbei auf die erstarrte Zuschauermenge. Dann wandte ich mich dem Wächter mit der Peitsche zu.
    |28| »Da läuft ein Dorftrottel frei herum«, sagte ich. »Schaff ihn aus dem Weg!«
    Ich trieb den Abendfarbenen vorwärts. Das mächtige Ross umging mühelos das Hindernis und schritt weiter, dem Schloss entgegen. Ich hörte eine Peitsche knallen und unterdrücktes Aufstöhnen in der Menschenmenge hinter mir, doch ich wandte mich nicht um.
     
    Mein rundes Turmzimmer nahm den gesamten obersten Stock des Ostturmes im Schloss ein. Das graue Dämmerlicht darin war wohltuend. Ruhe zog in mir ein, während ich den Blick über die einfachen Möbel gleiten ließ – ausschließlich Dinge, die ich für mein Leben und meine Magie benötigte. Grundlegende, essenzielle Dinge. Nichts, was Gefühle zu erwecken vermochte und mich auf irgendeine Weise binden konnte. Ein niedriges Holzbett, Bücherregale an den Wänden, ein hoher Kleiderschrank aus dunklem Holz in der Ecke, eine große Truhe zwischen zwei schmalen Turmfenstern, in welcher sich die heiligen Gerätschaften für die Sonnwendzeremonie befanden, und der Spiegel zwischen Tür und Regalen. Und dann natürlich jener Teil des Raumes, den der Rabe zu seiner Wohnstatt erkoren hatte.
    Der Rabe schlief auf seiner Stange. Er rührte sich nicht, als ich eintrat. Wenn er wollte, hatte er einen sehr festen Schlaf.
    »Du siehst müde aus, Marjuschka«, sagte Praskowja, die nach mir ins Zimmer trat. Wenn wir miteinander allein waren und die Aufgaben des Tages erledigt hatten, legten wir keinen Wert mehr auf Formalitäten.
    Ich wandte mich Praskowjas besorgter Miene zu. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte vergessen, wer ich war, und mein Gesicht an ihrem großen Busen verbergen, wie ich es bisweilen als Kind getan hatte. Oder wir könnten

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