Die Sonnwendherrin
mussten: zum Dorfbrunnen.
Die kleine Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte, musterte uns schweigend. Die meisten von ihnen waren |24| alte Weiber, die zweifellos bereits seit dem frühen Morgen über nichts anderes getratscht hatten als meine Ankunft. Nach fünf Jahren als Sonnwendherrin kannte ich das Spiel. Ohne dass ein einziges Wort fiel, musste ich den unausgesprochenen Zeichen folgen.
Ich fing den Blick einer hochgewachsenen Matrone auf, deren rundes Gesicht unter ihrem Kopftuch hervorlugte wie eine Henne aus dem Nest. Ihre Augenlider bebten ein wenig, als sie den Blick abwandte und zu einer Gruppe jüngerer Frauen hinübersah, die ein Stück entfernt in einer Seitenstraße standen. Ich gab dem Fahrer ein Zeichen, an Ort und Stelle zu warten, während ich in ihre Richtung ritt. Die schüchternen Blicke der Frauen wiesen mich weiter zur nächsten Gruppe und schließlich zu einer Isba am Ende der Gasse.
Es war ein altes, windschiefes Haus. Selbst die Balken der Wände waren schief, als sei der Erbauer betrunken gewesen. Der Mann und die Frau, die an der Tür standen, wirkten traurig, aber nicht verzweifelt. Sie hatten sich auf ihr Schicksal vorbereitet. Gut. Ich hasste tränenreiche Szenen. Ich konnte mir kein Mitgefühl leisten.
Ich ritt geradewegs zu ihnen und ließ mein Pferd vor dem reparaturbedürftigen niedrigen Holzzaun anhalten.
»Herrin«, sagte der alte Mann zu mir, »dies ist meine jüngste Tochter.«
Sie hatte ein einfaches Kleid an, das wie ein Sack an ihr herunterhing. Den Kopf hatte sie gesenkt. Ihr Haar wurde von einem gestrickten Tuch von schmutzig grauer Farbe bedeckt. Sie hatte bestimmt geweint, denn ihr Gesicht war blass und ihre Augen verschwollen. Aus der Dunkelheit hinter dem Eingang vernahm ich unterdrücktes Schluchzen und erriet mehr, als ich zu sehen vermochte, dass sich dort andere Frauen befanden, denen man zweifelsohne befohlen hatte, sich zu verbergen, wenn ich zu ihrem Haus kam.
|25| »Nimm dein Tuch ab«, befahl ich dem Mädchen.
Ihr Haar war dunkelblond, so wie man es in diesen Dörfern am häufigsten fand. Sie hatte es zu einem festen Zopf geflochten, den sie hinten in ihr Kleid gesteckt hatte. So machten es die Dorfmädchen für gewöhnlich, damit ihnen das Haar bei der Hausarbeit nicht im Weg war. Was von ihrem Zopf zu sehen war, wirkte jedoch kräftig – ihr Haar würde einen erfreulichen Anblick bieten am Sonnwendabend, wenn wir den Zopf lösten. Ich beugte mich im Sattel vor, um ihr Gesicht näher zu betrachten. Ihre Züge waren ebenmäßig. Wenn sie nicht mehr so erregt war, würde sie hübsch aussehen. Unter ihrer Maske aus Tränen wirkte sie jung und unschuldig. Mein Instinkt sagte mir, dass sie tatsächlich noch Jungfrau war, so wie es die Dorfbewohner glaubten. Jeder wusste, dass Jungfräulichkeit eine unabdingbare Voraussetzung war.
Ich richtete mich im Sattel auf und wandte mich zu den erwartungsvollen und ängstlichen Gesichtern um. Sie waren bereit, dieses Mädchen preiszugeben, wie man es von ihnen erwartete. Sie harrten nun meiner Entscheidung. Würde die Herrin ihre Wahl annehmen, oder würde sie verlangen, andere Mädchen des Dorfes zu sehen, und dann vielleicht eines auswählen, das seiner Familie besonders lieb war, das die Eltern nicht hergeben wollten?
Fast fühlte ich ihre Angst, und
Gefühle
konnte ich mir nicht leisten.
»Also gut«, sagte ich ins Leere hinein. »Nehmt sie mit.«
Inmitten unterdrückter Seufzer der Erleichterung wendete ich mein Pferd und verließ das Dorf.
Wir befanden uns bereits wieder in der Stadt unweit des Schlosses, als meine Schwierigkeiten begannen.
Ich habe keine Ahnung, warum ich auf ihn aufmerksam wurde. Er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Dorftrottel. |26| Vielleicht hatte man ihn aus seinem Dorf gewiesen, weil er zu dumm war. Er schob sich mit einem abwesenden, gütigen Lächeln im Gesicht durch die Menge. Seine Kleidung war zerlumpt, als habe er sie seit Monaten nicht mehr abgelegt.
Er entdeckte mich ebenfalls, was ja nicht weiter schwierig war. Alle auf dem Platz beobachteten mich, meine Wachen und den Wagen, den wir eskortierten. Sie wussten, dass wir die Opfermaid geleiteten, doch es war keineswegs Mitgefühl, das sie uns mit offenen Mäulern anstarren ließ. Es war ganz gewöhnliche Neugier.
Was wahrscheinlich meine Aufmerksamkeit erregte, war die Tatsache, dass er sich nicht rührte, als die Menge sich teilte, um Platz für mich zu machen. Er blieb direkt vor meinem Pferd stehen und
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