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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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wollte Gleb wissen. »Die Macht ihres Vaters zehrt von diesen Jungfrauen. Er ist unsterblich, aber ohne diese Mädchen würde er verschrumpeln wie ein Leichnam. Ihre Liebe erhält seine Gesundheit und Stärke.«
    »Liebe?« Es war das zweite Mal, dass Iwan heute dieses Wort vernahm. Im Zusammenhang mit jenem Blutopfer klang es beinahe anstößig.
    Gleb seufzte. »Kupalo«, erklärte er, »ist der Gott der Ernte. Der Fruchtbarkeit! Und du weißt doch wohl, dass Fruchtbarkeit wiederum aus der Liebe entspringt, oder?«
    Iwan spürte, wie seine Ohren rot und heiß wurden. Glücklicherweise verbarg die Dunkelheit in diesem Zimmer seine Gesichtsfarbe.
    »Unser Zar Kaschtschej«, fuhr Gleb fort, »hat eine Methode gefunden, sich diese Energie zunutze zu machen. Das war noch geistreicher als sein Einfall, sich von seinem eigenen Tod zu trennen und ihn auf einer Nadelspitze zu verbergen. Eine Jungfrau im Jahr – kein besonders hoher Preis dafür, dass ein mächtiger Magier euer Königreich beschützt, nicht wahr?«
    »Was für eine Nadel?«, fragte Iwan.
    Gleb warf dem Wolf einen Blick zu.
    »Mach nur«, forderte ihn der Wolf auf. »Sag es ihm!«
    »Warum hast du es ihm nicht selbst erzählt, Wolf? Wieso überhaupt hast du mich gesucht?«
    |19| »Wir hätten auch ohne dich weitergemacht«, antwortete der Wolf dem Alten, »aber niemand weiß mehr über die Sonnwende als du!«
    »Wie steht es mit deinem anderen Kräuterkundigen?«
    »Er verließ dieses Königreich – vor zu langer Zeit. Und er hat dem Jungen bereits alles berichtet, was er wusste.«
    »Aha.«
    Die Pause schien eine Ewigkeit zu dauern. Der alte Mann brach mit seinen langen, schmalen Händen kleine Stücke von der Pastete ab, steckte sich eins nach dem anderen in den Mund und kaute bedächtig. Als er schließlich fertig war, lehnte er sich zurück gegen die Wand. Er wirkte müde.
    »Ich verstehe nicht, inwieweit es hilfreich für ihn wäre, ihm alles zu berichten«, sagte er. »Die Sonnwendherrin hat keine Gefühle. Mit ihr zu sprechen, würde nichts bewirken. Und was Kaschtschej betrifft – wie beschwatzt man einen Wolf, seinen Fleischbrocken herzugeben?«
    Von dem Teppich vor dem Ofen ertönte ein Grollen.
    »Tut mir leid«, sagte Gleb. »Es war nur eine Metapher.«
    »Ich will es versuchen«, beharrte Iwan. »Es wäre nicht recht, wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde! Sagt mir, wie ich es schaffen kann, altes Väterchen!«
    Der Kräuterkundige schmunzelte. »Alt – ja«, sagte er. »Aber dein Vater bin ich mit Sicherheit nicht.«
    »Ich weiß, dass Ihr mir helfen könnt. Wenn Ihr nur wollt!«
    Gleb verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist unmöglich, zur Sonnwendherrin zu gelangen, Junge«, sagte er. »Sie wohnt in einem hohen Turm im Schloss des Zaren. Sie kommt nur unter strenger Bewachung heraus, wenn ihre Pflichten zur Sonnwende es verlangen. Nur manchmal verwandelt sie sich in eine Taube und fliegt aus. Doch dann würdest du sie nicht erkennen.«
    »Eine Taube?«, fragte Iwan mit großen Augen.
    |20| »Hast du noch nie etwas von Gestaltwandlern gehört, Junge?« Gleb seufzte. »Wie dumm du bist!«
    »Sie ist eine Gestaltwandlerin?«
    »Das ist noch nicht alles, Junge. Sie kann nur diese beiden Gestalten annehmen: Mensch und Taube. Und – pass gut auf: Wenn sie die Gestalt des Vogels annimmt, hat sie auch die
Gefühle
einer Taube!«
    »Und?«
    »Hast du jemals gehört, dass Vögel Gefühlen unterliegen, mein Junge?«
    »Die Leute auf dem Land bezeichnen Tauben auch als ›Liebesvögel‹«, sagte Iwan verlegen.
    »Nur im Spaß.« Gleb schüttelte den Kopf. »Sie sehen wunderschön aus, das ist alles. Aber lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen!«
    »Sie muss doch noch andere Dinge tun«, beharrte Iwan. »Hat sie niemals irgendwie – Spaß?«
    Gleb starrte ihn an. »Du weißt wirklich gar nichts, Junge!«, sagte er.
    Für eine Weile schwiegen alle. Dann seufzte Gleb und wandte sich an den Wolf.
    »Er ist ganz anders als die anderen, Wolf«, stellte er fest. »Ich weiß nicht, warum du ihn hergebracht hast. Dieser Junge weiß
nichts
. Und dir müsste besser als jedem anderen bekannt sein, dass Reden nichts hilft. Es hilft niemals.«
    Der Wolf richtete sich auf, aber Iwan kam ihm zuvor: »Ihr habt recht, Väterchen«, sagte er. »Ich bin kein Krieger. Ich bin nur ein einfacher Narr. Aber ich bin eben auch derjenige, der jetzt hier steht. Ich kam zu Euch, weil der Wolf glaubte, ich könnte einiges von Euch lernen. Er ist der

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