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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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zumindest beieinandersitzen und über alles sprechen, was ich auf dem Herzen hatte. Doch wie könnte ich ihr gestehen, dass |29| mich der Anblick eines vertrottelten Dorfjungen auf dem Schlossplatz derart durcheinandergebracht hatte? Was würde sie dann von mir denken?
    Bestimmt hatte sie recht. Ich war müde. Nach einem anstrengenden Reisetag hatte ich jeden Grund dazu.
    »Es war ein langer Ritt«, sagte ich.
    »Du musst essen«, erwiderte Praskowja. »Du siehst blass aus. Lass mich nach jemandem senden, der dir eine Schüssel Borschtsch bringt.«
    Ich überlegte. Sie hatte wieder recht. Wahrscheinlich sollte ich etwas essen. Aber ich verspürte keinen Hunger. Und allein der Gedanke, diese geschäftigen Küchenmädchen in mein Zimmer zu lassen, die stets so fröhlich waren und sich krampfhaft bemühten, das vor mir zu verbergen, war unerträglich.
    »Vielleicht später«, sagte ich. »Ich will allein sein.«
    Die Dienerin stand einen Moment lang vor mir. Ich spürte ihre Besorgnis, aber ich ließ sie nicht an mich herankommen. Ich hatte genügend Gefühle für ein ganzes Jahr erlebt.
    Da ich ihrem Blick auswich, wandte sich Praskowja um und ging mit geschmeidigen, anmutigen Schritten zur Tür. In ihrer Jugend musste sie eine Schönheit gewesen sein. Ich fragte mich, ob ich ähnlich aussehen würde, wenn ich älter wurde.
    Als sich die Tür hinter ihr schloss, ging ich geradewegs zu meinem Spiegel.
    Seine Oberfläche war milchig grau und reflektierte nichts, bis ihm eine Frage gestellt wurde. Wie üblich begann ich mit der Frage, die ich ihm immer stellte, seit ich zwölf war.
    »Zeige mir die schönste Frau der Welt!«
    Der graue Schleier löste sich auf und verschwand. An seiner Stelle erschien mein Gesicht. Ich wusste natürlich, dass der Spiegel mich zeigen würde, und hätte ihn eigentlich nur um mein Abbild bitten müssen, doch mir tat dieses simple |30| Ritual wohl, es schmeichelte meinem Stolz. Ich lächelte, und mein Gesicht im Spiegel lächelte blass und von Macht erfüllt zurück. Sonnwendherrin. Tochter des Todes.
    Es war der nächste Wunsch, den ich äußerte, mit dem alles ins Wanken geriet.
    »Zeige mir meine Gedanken«, sagte ich geistesabwesend zum Spiegel, wobei ich eine winzige, senkrecht verlaufende Falte auf meiner Stirn betrachtete, genau zwischen den dunklen Bögen meiner Augenbrauen. Gestern war sie noch nicht da gewesen. Dann sah ich mein Gesicht verschwimmen, sah, wie der graue Schleier unter der glatten Oberfläche wallte, und dann
...
    Ich blickte in ein glänzendes Augenpaar, blau wie Kornblumen, unschuldig wie das eines Neugeborenen. Sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht lächelte mich an, und das strohfarbene Haar stand wirr ab, so wie auf dem Platz vor dem Schloss. Seine Lippen bewegten sich lautlos und formten erneut den dummen Satz: »Ihr seid wunderschön!« Und ein Funkeln drang aus den blauen Tiefen seiner Augen bis in meine Seele hinein und versetzte mir einen Stich.
    Ich sprang zurück und stürzte beinahe, weil meine Füße nicht so schnell weichen konnten, wie ich ihnen befahl. Ich schrie den Spiegel an: »Halt ein!«, und augenblicklich wurde das Gesicht durch grauen Nebel ersetzt. Der Rabe erwachte auf seiner Stange und krächzte heiser, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Doch ich sah nichts als diese Kornblumenaugen, hörte nichts außer diesen Worten, die mir zusammen mit den sanften Untertönen seiner Stimme eine Gänsehaut verursachten: »Wunderschön, wunderschön, wunderschön
..
.
«
    »Wie kann er es wagen!«, flüsterte ich, »wie kann er es wagen, mir zu sagen, ich sei schön!«
    »Freilich bist du schön, Marja«, sagte der Rabe sehr ruhig zu mir. »Die schönste Maid auf der Welt.«
    |31| »Ich bin keine Maid!«, gab ich zurück, obwohl mich der Klang von des Raben Stimme etwas beruhigte. Eine Maid ist eine Jungfrau, und beim Tod meines Vaters: Eine Jungfrau war ich nicht! Ich lasse mir keine Fesseln anlegen. Ich fliege frei auf dem Wind, durch den Himmel und über die Erde – wie eine Taube.
    Ich wünschte, ich könnte Vater sehen, Kraft aus seinem blassen, schönen Gesicht ziehen, aus dem Leuchten in seinen Falkenaugen; er würde mir die Erinnerung an diese dummen Kornblumenaugen schnell aus dem Kopf treiben. Ich wollte zu ihm, seine Hand berühren, seiner beruhigenden Stimme lauschen. Aber das wagte ich nicht. Ich wollte ihm meine Schwäche nicht zeigen.
    Ich wusste, was ich zu tun hatte.

|32| Iwan
    »Ich hoffe, das war das letzte Mal, dass du

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