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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bennett
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Ich nehme an, wenn ich so einen noch einmal probieren könnte, dürfte etwas passieren, aber deren Produktion ist natürlich längst eingestellt worden, aus der Richtung ist also keine Erinnerungshilfe zu erwarten. Sind wir fertig?« Sie griff nach ihrem Buch.
    Der Unkenntnis der Queen über Proust konnte, anders als der des Außenministers, rasch abgeholfen werden, denn Norman suchte sofort im Internet und fand heraus, dass der Roman dreizehn Bände hatte und daher idealer Lesestoff für den Sommeraufenthalt auf Balmoral war. Dazu kam noch George Painters Proust-Biographie. Und als sie die Bände in ihren rosaroten und blauen Schutzumschlägen auf dem Schreibtisch aufgereiht sah, fand die Queen, dass sie nahezu essbar aussahen, wie aus dem Schaufenster eines Konditors.
    Es war ein schlechter Sommer, kalt, feucht, unproduktiv, und die Jäger grollten jeden Abend über ihre karge Beute. Doch für die Queen (und für Norman) war es eine Idylle. Selten dürfte es einen größeren Kontrast zwischen der Welt eines Buches und dem Ort seiner Lektüre gegeben haben, da die beiden Leser sich in die kleingeistigen Plattitüden der Mme Verdurin und die Absurditäten des Baron de Charlus versenkten, während von den feuchten Hochsitzen herab die Gewehre ihren hohlen Trommelwirbel über die umliegenden Hügel hallen ließen und gelegentlich ein toter, durchnässter Hirsch am Fenster vorbeigetragen wurde.
    Die Pflicht verlangte vom Premierminister und seiner Frau, die Hausgesellschaft ein paar Tage zu beehren, und wenn er auch selbst nicht jagte, so zählte der Regierungschef doch darauf, die Queen auf einigen erfrischenden Spaziergängen durch die Heide zu begleiten, wobei er, wie er sich ausdrückte, »sie besser kennenzulernen hoffte«. Aber da er von Proust noch weniger Ahnung hatte als von Thomas Hardy, wurde er enttäuscht: Solche Gespräche unter vier Augen waren gar nicht vorgesehen.
    Nach dem Frühstück zog sich Ihre Majestät mit Norman in ihr Arbeitszimmer zurück, die Männer fuhren mit ihren Landrovern zu einem weiteren deprimierenden Jagdtag hinaus, und der Premierminister blieb mit seiner Frau auf sich gestellt zurück. An manchen Tagen streiften sie durch Moor und Heidekraut, um mit den Jägern ein feuchtes, unbehagliches Picknick einzunehmen, doch am Nachmittag traf man sie meist in einer fernen Ecke des Salons bei einer traurigen Partie Monopoly an, nachdem sie die Einkaufsmöglichkeiten der Gegend mit dem Kauf einer Tweeddecke und einer Packung Shortbread ausgeschöpft hatten.
    Vier solcher Tage waren genug, und so entschieden der Premier und seine Gattin sich unter einem Vorwand (»Ärger im Nahen Osten«) für eine verfrühte Abreise. An ihrem letzten Abend wurde rasch ein Charade-Wettstreit organisiert, wobei die Auswahl der zu ratenden wohlbekannten Zitate oder Sprüche offenbar zu den seltener genutzten Vorrechten der Monarchin gehörte, und mochten sie ihr selbst auch wohlbekannt sein, allen anderen – den Premierminister eingeschlossen – blieben sie ein Rätsel.
    Der Premier verlor nicht gern, nicht einmal gegen die Queen, und es war kein Trost, von einem der Prinzen anvertraut zu bekommen, dass ohnehin nur sie gewinnen konnte, da die Aufgaben (von denen mehrere sich auf Proust bezogen) von Norman gestellt wurden und aus ihrem gemeinsamen Lesestoff stammten.
    Hätte Ihre Majestät eine ganze Reihe längst erloschener Vorrechte wiederbelebt, wäre der Premierminister kaum verärgerter gewesen, und so verlor er nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt keine Zeit, seinen Berater auf Sir Kevin anzusetzen, der dem Premier sein volles Mitgefühl aussprach, jedoch darauf hinwies, dass sie momentan alle an der Bürde Norman zu tragen hätten. Den Regierungsberater beeindruckte das nicht. »Ist dieser Norman vom anderen Ufer?«
    Sir Kevin war sich nicht sicher, aber er hielt es für möglich.
    »Und weiß sie das?«
    »Ihre Majestät? Wahrscheinlich.«
    »Und weiß es die Presse?«
    »Ich denke, die Presse«, sagte Sir Kevin und mahlte die Kiefer, »ist das Letzte, was wir gebrauchen können.«
    »Ganz genau. Ich kann die Sache also Ihnen überlassen?«
    Es begab sich nun, dass ein Staatsbesuch in Kanada anstand, ein Vergnügen, das Norman entging, da er seine Ferien lieber daheim in Stockton-on-Tees verbrachte. Er hatte jedoch alle nötigen Vorkehrungen getroffen und eine sorgfältig ausgewählte Bücherkiste gepackt, die Ihre Majestät vom Atlantik bis zum Pazifik beschäftigen würde. Soweit Norman wusste,

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