Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
nur ganz kurz: Sie stiegen in die Luft auf und gaben Geschlechtspheromone ab, um ein geflügeltes Männchen anzulocken und sich mit ihm zu paaren. Dann landeten sie und gründeten eine neue Kolonie – fliegen sollten sie fortan nie wieder. Mit Fortgang der Evolution begannen die Ameisen des Mesozoikums, instinktiv kleine Gesellschaften zu bilden und ihre Domänen überall durch die verrottende Vegetation auf der Erdoberfläche und tief in den Boden darunter auszubreiten.
Sie entwickelten immer mehr Komplexität und brachten über zig Millionen Jahre hinweg immer weitere Arten hervor. Viele Ameisen wurden zu Räubern – Hauptfressfeinde von Insekten, Spinnen, Asseln und anderen bodenbewohnenden Wirbellosen –, deren Nachkommen heute immer noch leben. Ameisen übernahmen auch die Rolle der ersten Totengräber, indem sie die Überreste kleiner Tiere ausweideten, die durch Krankheit oder Unfall ums Leben gekommen waren. Genauso bedeutend für alle terrestrischen Ökosysteme ist, dass sie als Erste die Böden umgruben und in dieser Arbeit sogar noch die Regenwürmer übertrafen.
12.7 Arbeiterinnen der Australischen Weberameise (Oecophylla smaragdina) bauen Nester in Baumkronen, indem sie Blätter zu Kammern zusammenziehen und sie mit Seidenfäden fixieren, die die madenartigen Larven ausscheiden.
In einer (sehr) groben Schätzung habe ich die heute lebenden Ameisen, gerundet auf die nächste 10er-Potenz, auf 10 16 (also 10 Millionen Milliarden) beziffert. Wenn jede Ameise durchschnittlich ein Millionstel eines Menschen wiegt, dann wiegen alle Ameisen auf der Erde etwa genauso viel wie alle Menschen (bei angenommenen 10 Milliarden Menschen und 1 Million Mal so vielen Ameisen). Diese Zahl ist gar nicht so beeindruckend, wie sie klingt. Bedenken wir Folgendes: Ließen sich alle lebenden Menschen versammeln und aufeinanderstapeln, so ergäben wir einen Würfel mit weniger als 1,6 km Seitenlänge. Könnten alle Ameisen genauso versammelt und aufgestapelt werden, ergäben sie also einen ähnlich großen Würfel. Beide ließen sich leicht in einem kleinen Abschnitt des Grand Canyon unterbringen. Gemessen allein an ihrem Protoplasma wären sie im Grunde weniger spektakulär als die römischen Zirkusspiele. Doch was für ein großartiger Wurf sind nicht diese beiden Eroberer der Erde, die wir hier beobachten und vergleichen.
12.8 Das Kastensystem einer Kolonie der Afrikanischen Weberameise (Oecophylla longinoda) umfasst die Königin, die Major-Arbeiterinnen, die sie füttern und putzen, sowie Minor-Arbeiterinnen, die sich um die madenartigen Larven, die Eier und die Puppen kümmern. Andere Major-Arbeiterinnen bauen mit den von den Larven hergestellten Seidenfäden Nester in der Luft.
13.
ERFINDUNGEN, DIE DIE SOZIALEN INSEKTEN VORANBRACHTEN
Ich erzähle nun die Geschichte, wie die sozialen Insekten bis zur Dominanz über die Wirbellosen der landbewohnenden Welt aufsteigen konnten – mit meiner fünfzigjährigen Forschung habe ich zur Klärung dieser Frage beigetragen. Diese winzigen Eroberer drangen nicht wie außerirdische Invasoren in die Umwelt ein. Sie schlichen sich mit leisen, kleinen Schritten herein, und jeder dieser Schritte dauerte Millionen Jahre. Zuerst waren sie normale, ja sogar seltene Elemente in den Wäldern und Wiesen des Mesozoikums. Dann kamen in ihrem Verhalten und der Physiologie Innovationen auf, die den technologischen Erfindungen des Menschen entsprechen. Jede dieser Innovationen ließ sie in neue Nischen vordringen. Ihre Fähigkeit, die Umwelt zu kontrollieren, wuchs, und ihre Zahl wuchs mit. In der Mitte des Eozäns vor 50 Millionen Jahren waren sie die häufigsten mittelgroßen bis großen Wirbellosen zu Land.
Als im späten Jura oder in der frühen Kreidezeit die ersten Ameisen aufkamen, gediehen Termiten bereits seit zig Millionen Jahren, allerdings in einem völlig anderen Teil desselben Ökosystems. Sie waren Abkömmlinge schabenartiger Insekten, deren eigene Abstammungsgeschichte weitere hundert Millionen Jahre ins Paläozoikum zurückreicht. (Eine kurze Pause zur Beantwortung einer häufig gestellten Frage: Wie lassen sich Termiten von echten Ameisen unterscheiden? Ganz einfach: Sie haben keine Wespentaille.) Termiten beherrschten die Technik, abgestorbenes Holz und andere Pflanzenteile zu verdauen, indem sie mit ligninabbauenden Einzellern und Bakterien innerhalb ihrer Verdauungsorgane Symbiosen (enge biologische Partnerschaften) eingingen. Nach einer sehr langen Zeitspanne
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