Die spaete Ernte des Henry Cage
Morris morgen früh zur Arbeit kam, würde der tote Köter ihn sofort fertigmachen. Colin kicherte bei dem Gedanken daran, sperrte das Tor auf und schloss es, nachdem er es hinter sich zugezogen hatte, wieder ab. Den Schlüssel ließ er in den erstbesten Gulli fallen, den er fand.
Als er am Nachmittag auf den Hof gekommen war, hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte. Einer der Laster war noch unterwegs gewesen, aber zwei der Jungs waren damit beschäftigt, Daves Tieflader für den kommenden Tag zu beladen.
»Wie läuft’s denn so?«
Colins Begrüßung war unbeantwortet geblieben. Als er die Bürotür öffnete, wollte Dave gerade los, und die beiden hatten auf der Türschwelle einen kleinen Tanz aufgeführt, um sich aus dem Weg zu gehen. Colin hatte gelacht, doch Dave war nur mit gesenktem Blick davongestapft.
Morris war streitsüchtig gewesen.
»Die Jungs wollen dich nicht mehr haben. Und ich will meine Ruhe. Du kannst ja zur Gewerkschaft gehen, wenn du willst, aber mit dem schlimmen Arm wirst du kein Bein mehr auf den Boden kriegen.«
Der Mistkerl hatte doch tatsächlich über seinen eigenen Witz gelacht.
»Ich gebe dir drei Monatslöhne Abfindung – nimm’s oder lass es bleiben. Ich muss mich um nichts mehr kümmern.«
Er schob einen Umschlag über den Schreibtisch. »Dei ne Papiere sind auch da drin.«
»Na, vielen Dank auch.«
»Du warst schon immer ein blöder Hund, Colin. Gib mir deinen Schlüssel und verpiss dich.«
»Leck mich.«
Colin hatte den Schlüssel aus der Tasche gezogen und ihn auf den Tisch geschleudert. Der Schlüssel war abgeprallt und hatte Morris knapp über dem linken Auge getroffen. Morris blutete. Eine kleine Befriedigung, aber nicht so schön wie die Gewissheit, dass an einem Haken in der Küche seiner Wohnung ein Ersatzschlüssel hing.
Als Colin den Hof verließ, fing es an zu regnen, und die Bürgersteige wurden plötzlich glitschig. Er kam sich ohne Mantel auffällig vor. Etwa hundert Meter vor Colin kroch ein Streifenwagen aus einer Seitenstraße und bog in seine Richtung. Colin griff in die Tasche, nahm die restlichen Nägel und ließ sie zu Boden fallen, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Der Streifenwagen hatte angehalten und die Zündung ausgeschaltet; wer immer drinnen saß, wurde durch die Regenrinnsale auf der Windschutzscheibe verdeckt. Ein Unschuldiger würde neugierig sein und einen Blick in das Fahrzeug werfen, also tat Colin genau das und beugte sich leicht vor, als er an dem Wagen vorbeikam. Er hörte, wie der Motor gestartet wurde und der Wagen losfuhr. Colin drehte sich nicht um.
Es war noch eine halbe Stunde bis zur Ebury Street. Colin ging langsamer. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.Er könnte es bei einer anderen Gerüstbaufirma versuchen, aber er wusste, das brachte nichts. Morris und die Jungs würden ihn anschwärzen. Und wenn man erst mal dafür bekannt war, schon mal runtergefallen zu sein, dann wollte einen keiner mehr in seinem Trupp haben. Man brachte Unglück. Sie würden seinen Arm als Ausrede, warum sie ihn nicht nahmen, vorschieben, und dagegen konnte er überhaupt nichts machen. Blieb nur noch Eileen. Er würde für eine Weile nett zu ihr sein müssen.
Eileen schlief, als er nach Hause kam. Colin weckte sie nicht.
32.
Durch den Kopfhörer hörte Henry vertraute Volksmelodien, immer wieder überblendet von
Rule Britannia
. Es handelte sich um das mitreißende Potpourri, mit dem Radio Four als eine Art ›Last Night of the Proms‹ am frühen Morgen den Tag einläutete. Nur zu dieser frühen Stunde konnte sich die BBC patriotisches Flaggezeigen derart offen erlauben. Für Henry bedeutete die Musik das offizielle Ende der Nacht, und er hieß sie mit jener Erleichterung willkommen, die alle, die schlecht schlafen, verspüren, wenn sie wissen, dass es endlich in Ordnung ist, aufzustehen. Diesmal allerdings glaubte er, noch schlaftrunken, etwas anderes zu hören. Nur was? Er musste wohl vergessen haben, die Radiofrequenz einzuspeichern, denn irgendwie wurde die Melodienfolge durch rhythmische Störungen eines Nachbarsenders unterbrochen. Henry würde das vermaledeite Ding besser einstellen müssen. Er hob den Kopf aus der Tiefe seines Kissens und begriff, dass das Telefon klingelte.
»Hallo?« Seine Stimme war brüchig, noch nicht ganz wach.
»Henry, ich bin’s, Jack … tut mir leid, aber es geht ihr schlechter. Ich denke, du solltest so schnell wie möglich herkommen.«
»Ja, was … was ist denn passiert?«
»Kurz vor
Weitere Kostenlose Bücher