Die spaete Ernte des Henry Cage
Mitternacht … sie hatte einen Schlaganfall. Sie verliert immer wieder das Bewusstsein, und ihre Atmung ist schwach. Die Ärzte meinen, es könnte noch Tage dauern, aber …«
»Ich komme, so schnell ich kann. Ich sage Tom Bescheid.«
Henry setzte sich auf die Bettkante; Angst überflutete seinen ganzen Körper. Er kannte den Ausdruck: vor Angst schlottern. Er gehörte zu seinem Vokabular, und er benutzte ihn, ohne nachzudenken. Jetzt, als er von Krämpfen geschüttelt wurde, erfuhr er, dass es sich dabei keineswegs nur um eine Redewendung handelte. Eine geradezu epileptische Furcht hatte ihn ergriffen. Zwanzig Minuten lang war seine Besorgnis mit Händen zu greifen – konvulsivische Zuckungen und klappernde Zähne schienen eine biologische Notwendigkeit. Als die Krämpfe nachließen, legte er sich wieder hin, schlief ein und schreckte eine halbe Stunde später auf. Voller Schuldgefühle, sich nicht sofort bei Tom gemeldet zu haben, rief er ihn an.
Schon bald hatten sie alles arrangiert. Henry buchte die Flugtickets über seine Kreditkarte, froh über deren 2 4-Stunden -Reiseservice. Tom und Jane sollten von Norwichüber Amsterdam fliegen. Die Burnhams würden Hal zu sich nehmen.
Es gab keine Plätze mehr auf irgendwelchen Direktflügen von London aus, aber Henry konnte nach New York fliegen und dort einen Anschluss nach West Palm Beach bekommen. Das bedeutete zwar, dass er sich mit dem Taxi von JFK nach LaGuardia bringen lassen musste, aber es gab ein Zeitfenster von drei Stunden, und der Mann bei American Express hatte zuversichtlich gemeint, das sei zu schaffen.
Als Henry in der Club-Lounge saß und darauf wartete, dass sein Flug aufgerufen wurde, beobachtete er die Mitreisenden. Die meisten waren Geschäftsleute. Allerdings war es nicht ihre Kleidung, die sie verriet, denn heutzutage trug man keine Geschäftskleidung mehr – stattdessen ausgebeulte Jeans oder Jogginganzüge; Kleidung für die Reise, nicht für das Ziel. Nein, was sie verriet, war ihrer aller Drang zur Produktivität. Rings um Henry waren die Laptops aufgeschlagen, liefen die Handys heiß.
»Sagen Sie ihm, ich maile ihm aus dem Flieger.«
»Judy, ich sitze in der Lounge, könntest du Simon Clarks Sekretärin sagen, sie soll mir die Bankunterlagen nach New York ins Hotel faxen?«
»Donald? Ich bin’s, Philip – ich schätze, ich bin gegen drei Uhr bei Ihnen. Der Flug wird wohl in einer Viertelstunde aufgerufen.«
Henry schloss die Augen und dachte an Nessa.
Er hatte sie mal fotografiert, als sie vor dem Fernseher eingeschlafen war. Neben der Lehne ihres Sessels hatteeine Lampe auf einer kleinen Truhe gestanden, und in dem Licht hatte sie makellos ausgesehen, wie ein junges Mädchen. Lange hatte er dagesessen und sie betrachtet. Es war ein paar Tage, nachdem er ihr bis zur Wohnung ihres Liebhabers gefolgt war; sie hatte es ihm noch nicht gebeichtet. Henry hatte tiefe Zuneigung zu ihr verspürt. Er war in sein Arbeitszimmer gegangen, um seine Kamera zu holen. Er hatte sich Sorgen gemacht, der Blitz könne sie wecken, doch Nessa hatte sich nicht gerührt. Als der Film entwickelt worden war, konnte er sehen, dass der Blitz das vorteilhafte Licht überstrahlte, und auch seine versöhnliche Stimmung war verflogen. Henry hatte das Bild vernichtet, aber offenbar nicht die Erinnerung an diesen Augenblick.
Im Flugzeug saß er neben einem jungen Mann, der auf seinem Klapptisch recht schnell ein Behelfsbüro eingerichtet hatte. Als er aufstand und seinen Pullover auszog, sah Henry an der Aufschrift auf seinem T-Shirt , dass er für Lehman Brothers arbeitete und 1998 auf Hawaii Golf gespielt hatte. Henry schlug sein Buch auf und wandte sich von seinem Sitznachbarn ab. Ein einziges Mal in vierzig Jahren Geschäftsreisen hatte er sich von einer Sitznachbarin in ein Gespräch verwickeln lassen. Damals hatte er bei einem Nachtflug von Los Angeles zurück neben einer jungen, attraktiven Frau gesessen. Sie hatten sich stundenlang unterhalten, bevor sie einschliefen. Der Gatte der Frau hatte sie bei der Ankunft erwartet, und sie hatte ihm Henry vorgestellt.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich habegerade die Nacht mit Ihrer Frau verbracht«, hatte er gewitzelt.
Der Mann hatte frostig reagiert.
»Was hast du denn erwartet?«
Henry war von Nessas Reaktion überrascht gewesen, als er ihr davon erzählt hatte. »Na, komm schon, es war doch nur ein Scherz.«
»Oder Wunschdenken«, hatte sie entgegnet.
33.
Jack saß an Nessas Bett und
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