Die Sphaeren
Vielleicht morgen, oder übermorgen. Mein Masyen brennt darauf, dich kennenzulernen. Bürgermeister ist er jetzt. Bürgermeister dieser großen Stadt. Wer hätte das gedacht?«
»Mutter«, sagte Oramen und nahm sie in die Arme. »Wie sehr habe ich mich darauf gefreut, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«
»Es geht mir gut, es geht mir gut. Hör auf damit, du Dummchen, sonst zerdrückst du mir das Kleid.« Sie lachte und schob ihn mit beiden Händen von sich.
Aclyn war älter und schwerer als in seiner Erinnerung. So etwas ließ sich vermutlich gar nicht vermeiden, dachte er. Ihr Gesicht, obgleich faltiger und schwammiger als auf den Porträts und in seiner Erinnerung, schien zu glühen. Sie war so gekleidet, als wollte sie gleich zu einem Ball gehen, trug aber eine Schürze über ihrem Gewand. Das kastanienbraune Haar hatte sie nach der neusten Mode hochgesteckt und bestäubt.
»Ich erhole mich noch immer von dem kleinen Mertis«, sagte sie. »Die Geburt war schrecklich. Ihr Männer habt ja keine Ahnung. Ich habe meinem Masyen gesagt, dass er mich nie wieder anrühren soll! Aber das war natürlich nur so dahingesagt. Und die Reise hierher war schrecklich, sie schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Doch jetzt bin ich in Rasselle! Es gibt so viel zu sehen und zu tun! So viele Arkaden, Geschäfte, Empfänge und Bälle! Hier kann man überhaupt nicht traurig sein! Isst du mit uns?«, fragte sie. »Der Tagesrhythmus hier ist so bizarr! Wir speisen noch immer zu seltsamen Zeiten. Was die Leute wohl von uns denken? Wir wollen uns zum Mittagessen in den Garten setzen, das Wetter ist so mild. Sei unser Gast, ja?«
»Gern«, sagte Oramen, nahm die Handschuhe ab und reichte sie zusammen mit seinem Reisemantel Neguste. Sie gingen durch einen hell erleuchteten Flur, über dicke Teppiche, die das dunkle Holz des Bodens bedeckten. Oramen passte seine Schritte denen Aclyns an und ging langsamer. Bedienstete trugen schwer aussehende Kisten aus einem Zimmer; sie wichen zurück, machten Oramen und seiner Mutter Platz.
»Bücher«, sagte Aclyn, und dabei klang ihre Stimme verächtlich. »Alle vollkommen unverständlich, selbst wenn man sie lesen wollte. Wir machen aus der Bibliothek einen weiteren Empfangsraum. Was die Bücher betrifft … Wir versuchen, sie zu verkaufen, und den Rest verbrennen wir. Hast du tyl Loesp gesehen?«
»Er hat Rasselle gerade verlassen, um eine ferne Provinz zu besuchen. Die hiesigen Kommunikationseinrichtungen lassen noch immer zu wünschen übrig«, sagte Oramen und blickte in eine der mit Büchern gefüllten Kisten.
»Ist er nicht wunderbar? Tyl Loesp ist so ein prachtvoller Mann! So tapfer und kühn, voller Autorität. Er hat mich sehr beeindruckt. Bei ihm bist du in guten Händen, Oramen, mein kleiner Prinzregent; er hat dich in sein Herz geschlossen. Wohnst du im Großen Palast?«
»Ja, obwohl bisher nur mein Gepäck dort eingetroffen ist.«
»Du bist also zuerst hierher gekommen! Wie reizend! Hier entlang. Komm, ich stelle dir deinen kleinen Bruder vor.«
Sie traten zu den duftenden Terrassen hinunter.
Oramen stand auf einem hohen Turm in der vom Hyeng-zhar geschaffenen Schlucht und beobachtete ein weiteres großes Gebäude, das nach Meinung der Techniker und Ausgrabungsleute bald umstürzen würde, unterspült von dem Wasser, das zum größten Teil vom Fontänengebäude stammte – es würde das zweite Bauwerk sein, das ihm zum Opfer fiel. Der Oramen als Aussichtspunkt dienende Turm war schmal und wie ein Dolch geformt, und angeblich hatte er ein stabiles Fundament. Die kleine runde Plattform unter ihm sah aus wie ein auf die Spitze des Dolchs gesetzter Fingerring. Das Gebäude, dem sein Blick galt, war ebenfalls recht schmal, aber flach wie eine Schwertklinge, und seine Seiten glänzten im spärlichen graublauen Licht von Kiesestraal.
Der verblassende Stern war jetzt die einzige Lichtquelle. Ein kleiner Himmelsstreifen, nicht mehr als eine Linie am Horizont, glühte bei Fernpol. Ihm gegenüber, wo Clissens und Natherley vor einigen Tagen untergegangen waren, konnte nur ein besonders fantasievolles Auge noch einen Rest ihres Lichts erkennen. Einige wenige Personen, die vielleicht besser
sahen als alle anderen, behaupteten, noch einen Hauch von Rot wahrzunehmen, aber außer ihnen war niemand sonst dazu imstande.
Doch die Augen passten sich an, dachte Oramen, oder vielleicht die ganze Wahrnehmung, das ganze Denken. Kiesestraals blasses Licht machte alles düster, aber die meisten
Weitere Kostenlose Bücher