Die Sphaeren
Dinge blieben sichtbar. Mit den beiden Sternen Clissens und Natherley am Himmel war es drückend heiß gewesen, hatte man ihm erzählt, und ihr gemeinsames Licht hatte viele Augen geblendet. Vielleicht waren sie mit dieser knapperen Helligkeit besser dran. Er fröstelte und klappte den Mantelkragen hoch, als beißender Wind um den dünnen Gipfel des Turms kam.
Es hatte geschneit, aber der Schnee war noch nicht liegen geblieben. Der Fluss war kalt, und weiter stromaufwärts bildete sich Eis an den ruhigeren ufernahen Stellen. Noch weiter stromaufwärts, beim Ursprung des Flusses, fror das Obere Sulpinmeer zu – jene Region bekam das Fehlen der beiden Rollsterne als Erste zu spüren.
Die Luft war jetzt selten unbewegt, selbst fernab des Katarakts, wo das gewaltige Gewicht des in die Tiefe stürzenden Wassers stets ein wirres Durcheinander aus Böen schuf. Manchmal verwandelten sie sich in Tornados, dazu fähig, Menschen, Ausrüstung, Schienen und ganze Züge in die Tiefe zu stürzen.
Während nun der Teil der Neunten, der nur noch Kiesestraals schwaches Licht empfing, immer kühler wurde und der Rest des Kontinents warm blieb, wehte fast ständig Wind: heulende Zahnräder im riesigen Motor der Atmosphäre, die versuchten, unterschiedliche Temperaturen auszugleichen.
Dadurch entstanden Stürme, die manchmal tagelang dauerten, Sand und Staub über Hunderte von Kilometern hinweg trugen, damit das wenige noch existierende Licht weiter trübten und die Ausgrabungsarbeiten behinderten: Der Schein generatorbetriebener Lampen konnte die Düsternis kaum durchdringen, und Maschinen stellten die Arbeit ein, weil Staub ihre Mechanik blockierte. Die größeren Sandstürme konnten stromaufwärts so viel Material im Fluss abladen, dass das Wasser des Katarakts braun, grau, gelb, rosa oder blutrot wurde, je nachdem, aus welcher Richtung der Sturm kam und wo er seine Fracht aufgesammelt hatte.
Heute gab es keine Schleier aus Sand, nicht einmal Wolken. Noch immer stürzten die Fluten über den Rand in die Tiefe, mit einem Getöse, das Felsen und Luft erschütterte. Oramen hatte festgestellt, dass er diese Geräusche inzwischen kaum mehr hörte und automatisch lauter sprach, um sich trotz des Lärms verständlich zu machen. Das Donnern des Katarakts reichte bis zu seinem Quartier in der Siedlung, einen Kilometer von der Schlucht entfernt.
Er wohnte in der früheren Unterkunft des Erzpontifex der Hyeng-zhar-Mission – des Oberhaupts der Mönche, die den Tod gewählt hatten, um nicht ins Exil gehen zu müssen. Sie bestand aus mehreren luxuriös ausgestatteten Waggons, umgeben von mit Stacheldraht versehenen Barrieren, die über Sand und Gestrüpp geschoben werden konnten, wenn die Waggons bewegt werden mussten. Entlang der Schlucht erstreckte sich ein ganzes System aus Breitspurgleisen und bildete den organisiertesten und diszipliniertesten Teil der mobilen Stadt. Während die Schlucht in die Länge wuchs und der große Wasserfall immer weiter zurückwich, wurden weitere
Schienen gelegt, und etwa alle fünfzig Tage brach der offizielle Teil der Siedlung – fast alles Waggons und Schienenwagen – auf und folgte dem Katarakt. Der Rest des Ortes – die inoffiziellen Bereiche der Händler, Schürfer und Arbeiter, der Wirte, Bankiers, Lieferanten, Prostituierten, Ärzte, Prediger, Unterhalter und Wächter – bewegte sich schubweise und nicht synchron mit dem bürokratischen Herzen der Siedlung.
Oramens Bereich lag immer unweit des Kanals, der ständig parallel zum Fluss gegraben wurde und mit den neu ausgelegten Schienen Schritt hielt. Der Kanal lieferte der Siedlung Trink- und Brauchwasser sowie Kraft für die verschiedenen hydraulischen Systeme der Baustellen. Des Nachts, wenn sich der Wind einmal legte, glaubte Oramen, über dem fernen Donnern des Katarakts das Plätschern des Kanals zu hören.
Wie schnell er sich an diesen seltsamen, für immer provisorischen Ort gewöhnt hatte. Während der fünf in Rasselle verbrachten Tage und der vier für die Reise hin und zurück hatte er ihn sonderbarerweise vermisst. Es ähnelte der Wirkung der großartigen Stimme des Wasserfalls, seines immerwährenden Brüllens. Man gewöhnte sich so schnell daran, dass ihr Fehlen, wenn man diesen Ort verließ, wie eine innere Leere erschien.
Oramen verstand genau, warum so viele Leute, die hierherkamen, nie wieder gingen, oder nicht für lange, nicht ohne sich die Rückkehr zu wünschen. Er fragte sich, ob er dem Katarakt den Rücken kehren sollte,
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