Die Sphaeren
Realitätsgrill verlassen hatte – zuerst fand sie die Raumschiffnamen absurd, kindisch und lächerlich, gewöhnte sich dann daran, glaubte dann, sie zu verstehen, begriff endlich, dass man ein Schiffsgehirn gar nicht verstehen konnte, und fand sie wieder ärgerlich. Die Drohne beantwortete jede ihrer Fragen und sprach manchmal in ihrem Namen.
Die ersten drei Jahre verbrachte sie im Orbital Gadampth, vor allem in einem Teil namens Lesuus, einer Art erweiterten Stadt auf einer Gruppe von Inseln in einer weiten Bucht am Rand eines Binnenmeers. Die Stadt hieß Klusse und wies gewisse Ähnlichkeiten mit einer gewöhnlichen Stadt auf, obwohl sie viel sauberer war und keine Vorhangbarrieren oder andere erkennbare Verteidigungseinrichtungen hatte. Sie schien größtenteils ein riesiges Haus des Wissens zu sein.
Als sie über die Boulevards, Terrassen, Promenaden und
Plätze ging, spürte sie – nicht sofort, sondern nach und nach, als sie schon glaubte, sich an den Ort gewöhnt zu haben – eine sonderbare Mischung aus Behaglichkeit und Beunruhigung, und es dauerte eine Weile, bis sie den Grund dafür herausfand. Es lag daran, dass nicht eins der vielen Gesichter, die sie sah, einen entstellenden Tumor zeigte oder von einer Krankheit zerfressen war. Sie hielt vergeblich nach einem Hautleiden oder einem trüben Auge Ausschau. Und mehr noch: Bei all den vielen Personen, unter denen sie sich bewegte, war nicht eine, die hinkte, sich auf Krücken oder eine andere Art von Gehhilfe stützte oder wegen eines Klumpfußes humpelte. Und nicht ein einziger Irrer stand an irgendeiner Straßenecke, um von dort aus zu den Sternen emporzuheulen.
Zuerst fiel ihr das nicht auf, weil die physische Vielfalt der Leute sie viel zu sehr erstaunte. Aber als sie sich daran gewöhnt hatte, wurde ihr klar: Zwar gab es eine schier unbegrenzte physische Mannigfaltigkeit, doch keine Deformität und trotz der enormen Exzentrizität auch keine Demenz. Es gab mehr Unterschiede in Hinsicht auf Gesicht, Körper und Persönlichkeit, als sie bisher für möglich gehalten hätte, aber sie alle waren das Produkt von Gesundheit und freier Wahl, nicht von Krankheit und Schicksal. Jeder war – oder konnte es sein, wenn er es wünschte – schön in seinem Erscheinungsbild und Charakter.
Später stellte sie fest: Da dies die Kultur war, gab es natürlich Individuen, die Hässlichkeit und sogar den Anschein von Deformität und Entstellung begrüßten, nur um anders zu sein oder um etwas zum Ausdruck zu bringen, von dem sie glaubten, dass es all den anderen mitgeteilt werden sollte. Nachdem sie ihren ursprünglichen Ärger überwunden hatte
(begriffen diese Leute denn nicht, dass sie zumindest unwissentlich jene verspotteten, die wirklich entsprechende Leiden ertragen mussten?), stellte sie sich der Erkenntnis, dass selbst die absichtliche Annahme von Hässlichkeit eine Art gesellschaftliche Zuversicht zeigte, mit der man kruder Vorsehung und der alten, inzwischen überwundenen Tyrannei genetischer Aberration, schwerer Verletzungen und ansteckender Krankheiten eine lange Nase machte.
Ein Stern namens Aoud beschien das zehn Millionen Kilometer lange Band des Orbitals. Die Sonne war das, was alle Leute für einen wahren Stern hielten, auf natürliche Weise entstanden. Ihr erschien Aoud unglaublich alt und absurd, gerade verschwenderisch enorm.
In Klusse erfuhr sie mehr über die Geschichte der Kultur und der Galaxis. Sie hörte von den anderen Zivilisationen, die man in ihrer Heimat »Optimae« nannte. Sie selbst bezeichneten sich als Beteiligte oder Mitspieler. Allerdings wurden diesen Bezeichnungen sehr locker verwendet, und für das Sarl-Wort »Optimae«, das auf Überlegenheit hindeutete, gab es kein exaktes Äquivalent. Eine einigermaßen genaue Umschreibung lautete »auf hoher Ebene beteiligt«.
Darüber hinaus erfuhr sie praktisch alles, was es über ihr eigenes Volk, die Sarl, zu erfahren gab: ihre lange Evolution auf einem fernen Planeten mit dem gleichen Namen; ihre Verwicklung in einen schrecklichen Krieg; ihre Verurteilung und Deportation (zu ihrem eigenen Besten und auch zum Wohle des Volkes, mit dem sie ihre Heimatwelt geteilt hatten; man glaubte, dass sie entweder alle anderen töten oder selbst ausgelöscht würden); schließlich ihre Unterbringung in
Sursamen, unter der Schirmherrschaft des Galaktischen Rates, der Morthanveld und der Nariscene. Diese Version fühlte sich nach Wahrheit an, dachte sie: den Mythen und Legenden ihres Volkes
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