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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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unserer Phantasie als Schimäre herumspukte, die uns auch dann noch verfolgte, als wir schon längst nicht mehr darüber sprachen. Keiner von uns verstand, was passiert war und wie es geschehen konnte, daß ein intelligenter und fröhlicher junger Mensch gewissermaßen über Nacht den Verstand verloren und sich aus dieser Welt verabschiedet hatte.
    Nach einer Woche wurde ein neuer Regieassistent eingestellt, und die Dreharbeiten schritten zügig voran. In einem alten Maison-de-maître war endlich auch ein Raum gefunden worden, mit dem Philippe seinen Frieden machte.
    Was sich am Anfang wie ein Gebirge aus langen Arbeitstagen, Regieproblemen, Organisationsschwierigkeiten und schauspielerischen Rätseln vor uns aufgetürmt und den Anschein bekommen hatte, man würde es nie oder erst in ferner Zukunft bezwingen, wurde auf einmal leicht und ging überraschend schnell zu Ende, kaum war ein bestimmter Zeitpunkt überschritten.
    Am Abend des letzten Drehtags gab es eine kleine Feier in einem Gasthaus am Rande der Stadt, aber ich befand mich im Kopf bereits auf der Rückreise, so daß ich mich hauptsächlich an die grauenhafte Musik erinnere, die aus den Lautsprechern des Etablissements plärrte und vermutlich dem Geschmack des Oberkellners entsprach.
    Was dann später in meinem Hotel in Trilport geschah, das allerdings werde ich bis zum Ende meiner Tage nicht vergessen.
    ICH HATTE GEPACKT und alles für einen frühen Aufbruch am nächsten Morgen vorbereitet.
    Draußen herrschte eine herrliche Sommernacht. Ich setzte mich auf die kleine Terrasse, die sich vor meinem Zimmer befand, und ließ den Blick hinunter ans dunkle Ufer der Marne schweifen, die hinter hohen, schwarzen Bäumen still und traumschwer dahinfloß. Hier und da glitzerte ihr mondbeschienenes Wasser durch eine offene Stelle im Gebüsch und verlieh der schlafenden Natur einen unvergleichlichen Zauber.
    Ich atmete tief und zufrieden, wie man es gerne tut, wenn eine anstrengende und schwierige Zeit glücklich durchstanden ist.
    Ich dachte an den seligen Wilhelm Uhde, und ob ich ihm wohl ein wenig gerecht geworden war, ob der Gang durch die Jahrzehnte, das Älterwerden und die zunehmende Traurigkeit auf der Leinwand später auch glaubhaft sichtbar würde, ärgerte mich über eine mißglückte Szene, spielte sie noch einmal im Geiste nach und fand, daß ich sie ganz anders, nämlich genauso wie eben jetzt in meiner Phantasie hätte spielen müssen, sah den Mond sich über die hohen Wipfel eines Weidenbaumes erheben und bemerkte plötzlich einen Schatten, der aus dem Dunkel der Uferböschung trat und geradewegs auf das Hotel zulief.
    DANN STAND ER PLÖTZLICH vor mir.
    Sein ganzer Aufzug verriet deutlich, daß er sich schon länger nicht mehr unter Menschen aufgehalten hatte. Das rechte Hosenbein war zerrissen, das verdreckte Hemd hing heraus, die teuren Sportschuhe waren von Morast überzogen, in den zerzausten Haaren klebten Grashalme. Es war Jean-Luc.
    Alles schien von ihm abgefallen, was jung, frisch und modern gewesen war; er wirkte wie ein Soldat vergangener Zeiten, der unter den Toten eines Schlachtfeldes umherirrt und nach Überlebenden sucht.
    Ich ahnte, daß er in eine sonderbare Welt hineingeraten sein mußte, der er verzweifelt zu entkommen suchte, aber je mehr er riß, zerrte und strampelte, desto fester zogen sich die unsichtbaren Bande, an denen er hing, zusammen und drohten, ihm das Blut abzuschnüren. Wie ein Ertrinkender, der vom Tumult der Strömungen noch einmal an die Wasseroberfläche gespült wird, nach Luft schnappt, um dann endgültig in der schwarzen Tiefe zu verschwinden.
    Er atmete schwer, die Schultern hoben und senkten sich, und er stierte mich an, als wollte er etwas unerhört Wichtiges sagen, aber nichts kam heraus als ein leises: »Hilf mir, Wilhelm! Ich habe Hunger.«
    Wilhelm war mein Filmname, der mir in der Produktion auch bald privat anhing; irgendwer hatte mich eines Tages so genannt, und dabei blieb es. Offenbar war er für die Franzosen leichter auszusprechen als mein wirklicher Name.
    Ich bat also Jean-Luc, sich zu setzen, holte eine Flasche Wasser und ein paar Schokoladenriegel aus dem Kühlschrank im Zimmer (die Flasche Wein ließ ich vorsichtshalber stehen) und schaute zu, wie er die Süßigkeiten in unglaublicher Geschwindigkeit vertilgte.
    Ich wartete ab, er würde bestimmt irgendwann anfangen zu sprechen, deshalb war er ja ohne Zweifel gekommen.
    Nachdem er auch noch die Flasche Wasser in wenigen Zügen geleert und

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