Die Spieluhr: Roman (German Edition)
ich in den Flur hineinlief.
Rechts an der Wand hingen ein paar monochrome Gemälde, von denen eines eine Hafenszene zeigte. Schiffe unter einem Wald von Segelmasten, Fischerboote und Lastkähne, die entladen wurden.
Auf einer Mole bezopfte Seemänner und Kaufleute in Pluderhosen, die miteinander sprachen oder verhandelten, dahinter Lagerhallen, und auf einem Hügel, der sich gleich dahinter erhob und sanft nach hinten zog, sah man Häuser, Türme und Kirchen einer ummauerten, mittelalterlichen Stadt.
Das Bild wirkte wie das Negativ einer Photographie. Obwohl Tag war, herrschte Nacht, und man hatte den Eindruck, die Welt sei in eine dunkle Schachtel eingeschlossen, durch die sich ein Riß zog, der gerade so viel Licht hineinließ, daß die Menschen in ihr nicht völlig verschwanden.
Was mich beunruhigte, war, daß es sie nicht im mindesten zu stören schien. Im Gegenteil, sie gingen ihrem Tagwerk nach, als sei ein Leben im Zwielicht etwas völlig Normales und nichts, worüber man sich besondere Gedanken machen müsse.
Da änderte sich plötzlich der Rhythmus der Musik, und ein Tanz war zu hören, in strengem Dreivierteltakt, zu schnell für eine Sarabande, aber etwas in dieser Art, ein höfischer Tanz, nach dem man sich in festgelegten Schritten bewegt.
Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich in dem großen Gobelin, der gleich neben dem Hafenbild hing und fast die ganze Wand einnahm, etwas regte. An den Rändern war er ausgefranst und verblichen, aber in seinem Inneren – da leuchtete er und strahlte, als wäre alles Licht, das den monochromen Bildern fehlte, in die feinen Stoffasern übergegangen und hätte sich in einer großartigen, lebendigen Tanzszene verdichtet.
Auf einer Waldlichtung war eine bunt zusammengewürfelte Schar von Menschen versammelt, Edelleute in höfischer Kleidung, Damen mit hohen Frisuren unter zierlichen Sonnenschirmen, Kinder, die mit Hunden spielten, aber auch bäuerliches, einfach gekleidetes Volk. Sie lauschten der Musik dreier Männer, die auf einer hölzernen Bank unter dem dichten Blätterdach einer riesigen Linde saßen und zum Tanz aufspielten.
Weinkrüge und Schalen mit Obst und Backwerk wurden herumgereicht, über einem Feuer drehte sich ein halber Hammel an einem Spieß.
Im Vordergrund aber stand eine Frau in zerschlissenem Leinenrock mit einem geflochtenen Korb voller Blumen, die mir plötzlich den Kopf zuwandte und den freien Arm so unvermittelt entgegenstreckte, daß ich erschrocken zurückfuhr.
Sie war groß und kräftig, ihr Gesicht derb, die Augen dunkel und starr, und während ich noch fieberhaft überlegte, woher ich sie kannte und was ich nun tun sollte, hatte sie mich schon am Handgelenk gepackt und hineingerissen in einen Strudel aus Bewegung und Geschrei.
Ich sah in grellgeschminkte Gesichter, aufgerissene, schmutzige Münder, die brüllten und lachten, taumelte durch Sonnenstrahlen und Gebüsch, an tanzenden Paaren vorbei, wurde in einen schattigen, umlaubten Winkel gerissen, fühlte die warmen, rissigen Lippen dieser riesigen Frau auf den meinen, hatte unversehens einen Becher am Mund und spürte, wie starker, süßer Wein mir die Kehle hinunterrann wie ein giftiges Elixier.
Die Fideln und Mandolinen der Musikanten schlugen einen immer schärferen Rhythmus an, alles um mich herum drehte sich wild im Kreise, und plötzlich erhob sich ein Wind in der Tiefe des Waldes, der wie eine mächtige Brandung heranrauschte, bald alles gellend übertobte und mich mit ungeheurer Gewalt in die Höhe riß und nach außen schleuderte.
Mit einem Schlag stand ich wieder im Dunkel des Korridors, als wäre nichts geschehen.
Die Kerzen des Leuchters brannten ruhig vor sich hin.
Nur dort, wo der Gobelin gehangen hatte, war jetzt eine hohe Tür, die einen Spalt weit offen stand, und ich hörte wieder diese Musik, leise und besänftigend.
Ich hätte eigentlich vor Angst sterben müssen, Wilhelm, aber ich fühlte mich leicht und frei wie nie zuvor in meinem Leben, ich durchlief eine fremde Choreographie, Schritt für Schritt, Figur für Figur, ich tanzte und spürte, daß ich nicht mehr aufhören konnte.
Zu tief war ich in eine Welt eingedrungen, die über einem Abgrund irrlichterte, in den ich hinabzustürzen drohte, ja, ich wünschte es mir sogar …«
ER SCHWIEG UND SAH Hinunter zum Fluß, dann legte er sich auf den Rücken und starrte hinauf in den nächtlichen Himmel.
Ob auch er das helle Licht sah, das mir sofort aufgefallen war, diesen funkelnden Punkt dort
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