Die Spieluhr: Roman (German Edition)
sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt hatte, starrte er eine Weile ausdruckslos auf den Holztisch vor sich, wobei er sich etwas zu beruhigen schien.
Dann gab er sich einen Ruck und sah mich an.
Er lächelte vorsichtig.
»Oh, oh, zum Verrücktwerden ist das alles, nicht wahr?! Aber was soll ich tun? Von der ersten Sekunde an war ich erloren, und ich weiß, daß ich sterben muß, wenn ich sie nicht wiederfinde. Sie ruft nach mir, das weiß ich wohl, jede Minute, aber ich habe den Weg verloren …
Ich weiß nicht … sie, die mir alles bedeutet, habe ich gefunden und gleich darauf wieder verloren.
Seitdem suche ich. Ich suche und suche …
Ich bin nicht wahnsinnig, o nein, auch wenn ihr das alle glaubt …
Hat mich nicht Amadé, dieser Dämon, hat er mich nicht ins Unglück gestürzt?! …
Vielleicht bist du der einzige, der mich versteht, Wilhelm, und deshalb bin ich gekommen.
Du bist nicht von hier, du bist aus einem fremden Land, in dem die Menschen tief denken und fühlen, und wenn du willst, werde ich dir meine Geschichte erzählen.
Gib mir einen Schluck Wein! Nein, gib mir zwei!!«
Jetzt lachte er leise, und ich spürte, wie gut es ihm tat, zu reden, daß er sich befreien wollte und ich eine Beichte hören würde, wie sie vielleicht niemand je vernommen hat.
Um die Flasche Wein zu entkorken, ging ich zurück ins Zimmer, aber als ich wieder auf die Terrasse trat, war Jean-Luc verschwunden.
Es versetzte mir einen Stich, denn für einen kurzen Augenblick glaubte ich wirklich, ich hätte alles nur geträumt.
Dann hörte ich, wie seine Stimme leise nach mir rief.
Er stand im Dunkeln, draußen auf der nächtlichen Wiese, die hinunter zum Fluß führte, und bat mich, zu ihm zu kommen.
Wir setzten uns ins feuchte Gras, der Mond schien so hell, daß ich jede Bewegung seines Gesichtes sehen konnte, und er begann.
»ALS ICH IN SÉRAPHINES Kammer wieder zu mir kam – heute weiß ich, daß es ihre Kammer war –, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand.
Ich lag auf einem staubigen Fußboden in vollkommener Dunkelheit und versuchte mich verzweifelt daran zu erinnern, was geschehen war. Für eine schreckliche Sekunde kam mir der Gedanke, ich hätte womöglich mein Augenlicht verloren.
Mir fiel ein, daß sich in meiner linken Jackentasche ein Feuerzeug befand. Ich nahm es heraus und zündete es an.
Gott sei Dank, da lag der Messingleuchter, der mir beim Sturz aus der Hand gefallen war!
Ich erinnerte mich wieder.
Ich sammelte die herausgefallenen Kerzen ein, steckte sie zurück und zündete sie an. Die Gegenstände um mich herum, ihrer nächtlichen Gestaltlosigkeit entrissen, flossen zögerlich zurück in die Form, die ihnen vom Licht bestimmt war.
Da hörte ich plötzlich, wie jemand sang, unendlich fein und voller Hingabe. Es war ein Kirchenlied, ein lateinischer Psalm, aber mit dem Lufthauch, der die stickige Kammer plötzlich durchwehte, flog die Melodie wieder davon, und es perlten leise Cembalotöne herein und erinnerten mich daran, daß ich Gast in einem Hause war, das sich anschickte, tiefer in mein Leben einzugreifen, als mir lieb war.
Ich schlich vorsichtig zur Tür und hatte noch nicht die Klinke berührt, als es hinter mir flüsterte:
›Séraphine, bleib, ich bitte dich! Dort, wo du jetzt hingehst, kann ich dir nicht helfen … Geh nicht!!‹ …
Ich wollte hinaus aus dieser Kammer, in der etwas Totes den Weg zurück ins Leben suchte, wollte das Schloß verlassen, meinen Wagen finden und davonfahren. Aber es war wohl auch die Neugier, die mich antrieb, und die betörende Wirkung dieser Musik, daß ich die Warnung des Marquis in den Wind schlug und durch die Tür in das dunkle Treppenhaus trat.
NACHDEM ICH EIN PAAR Sekunden in regloser Anspannung verharrt hatte, stieg ich vorsichtig ein Stockwerk hinab.
Ein paar Bodenfliesen brachen unter meinen Füßen und fielen klackernd die Treppenstufen hinunter.
Da setzte die Musik aus, aber ein paar Sekunden später hob sie wieder an, langsamer und getragener als zuvor. Sie kam aus einer Tür, die rechts vom Treppenabsatz wegführte.
Ich öffnete sie und blickte in einen dunklen Korridor.
Auf der linken Seite befand sich eine Flucht hoher, schadhafter Fenster.
Voller und tiefer brausten die Töne des Cembalos heran, deren Ursprung sich nun irgendwo in der Nähe befand, in einem der Säle, die am Ende des Korridors lagen.
Weil die Kerzen in der stickigen Luft zu erlöschen drohten, hielt ich meine Hand schützend davor, als
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