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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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wunderbare Melodie aus dem zweiten Satz.‹
    ER SAH MICH LANGE AN. Seine Augen hatten das Feuer des Spotts verloren und einen müden, dunklen Glanz angenommen.
    Zum ersten Mal bemerkte ich eine Schwermut und Resignation, die vielleicht den größeren Teil seiner seltsamen Persönlichkeit ausmachte.
    Dann stand er plötzlich auf, zog mich zu meiner Verblüffung an sich, nahm meinen Kopf in beide Hände und küßte mich auf den Mund. Dabei flüsterte er wieder und wieder: ›Mein Freund, mein lieber, lieber Freund!‹
    Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an meinen Hals, er fing an zu schluchzen, und ich fühlte seine Tränen auf meiner Haut. Ein Gefühl des Schreckens, ja des Ekels überkam mich, und mit großer Kraft stieß ich ihn von mir.
    Er taumelte zurück, starrte mich ungläubig an und sagte dann mit einer Stimme, in der sich Enttäuschung und Verachtung miteinander verbanden:
    ›Worauf warten Sie, mein Lieber, nichts in diesem Leben ist von Dauer, nicht wahr!? Sie haben drei Minuten, nach unserer Zeitrechnung, mehr Kraft hat die kleine Feder nicht, die die Walze im Inneren des Gehäuses antreibt …
    Erweisen Sie sich wenigstens der Marquise würdig, und es wird eine Ewigkeit dauern, bis die kleine Tänzerin stillsteht.
    Im übrigen sehen Sie dem seligen Vialli wirklich ganz außerordentlich ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten, aber das sagte ich ja schon.
    Und nun gehen Sie!‹
    Oh, Wilhelm, wäre ich doch umgekehrt, hätte ich nur erkannt, daß Amadé meinen Untergang wollte und ich in mein Verderben lief!
    Da wurde es plötzlich hell im Raum. Das Gemälde glühte in allen Farben, die Gestalt der Marquise schien plastisch aus dem Bild herauszutreten, und ehe ich merkte, wie mir geschah, hatte ich im Sog einer rasenden Bewegung mein Bewußtsein verloren …«
    JEAN-LUC SCHWIEG.
    Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, und so konnte ich nicht sehen, was sich in seinem Gesicht abspielte.
    Sein Schweigen war so tief, daß es sich erübrigte, Fragen zu stellen. Also stand ich auf, legte ihm die Hand auf die Schulter und bat ihn, noch ein wenig zu bleiben.
    Er nickte, und ich ging, um die Flasche Wein zu holen und die Gläser, die ich auf der Terrasse hatte stehen lassen.
    Mir war klar, daß er meine Abwesenheit nutzen würde, um zu verschwinden.
    Als ich wieder hinaustrat, warf der Mond, der für einen Augenblick aus den Wolken herausgetreten war, sein Licht auf die Wiese bis hinunter zum Fluß.
    Von Jean-Luc aber war nichts mehr zu sehen.
    EIN HALBES JAHR SPÄTER – ich hatte die Geschichte schon fast vergessen – rief mich Philippe aus Paris an. Er befand sich in der Postproduktion seines Films und wollte die Termine für eine Synchronisation mit mir abstimmen. Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn nach Jean-Luc.
    Er machte eine lange Pause, dann räusperte er sich und sagte, daß man ihn kurz nach Ende der Dreharbeiten in einer Waldlichtung bei Aumont gefunden hätte. Er hatte sich in einer alten Linde erhängt.
    Bald nach dem schrecklichen Vorfall, so fügte er hinzu, sei ein Brief bei ihm eingetroffen. Obwohl die Adresse in Großbuchstaben auf dem Umschlag angebracht worden war, glaubte er doch, Jean-Lucs Handschrift erkannt zu haben.
    Dieser Brief sei an mich adressiert.
    ZWEI WOCHEN NACH unserem Telephonat traf ich in Paris ein und Philippe händigte mir den Brief aus.
    Ich steckte ihn ein, um ihn am Ende des Tages in aller Ruhe im Hotel zu lesen.
    Als ich das Synchronstudio, das sich in einer kleinen Straße am Rande von St. Denis befand, gegen acht Uhr abends verließ, herrschte draußen tiefe Nacht. Trotzdem war es hell, denn es hatte über Stunden stark geschneit, und die Stadt lag unter einer leuchtendweißen Schneedecke.
    Ich nahm die Metro zur Station George V, lief in mein Hotel in der Rue Keppler, ging auf mein Zimmer und setzte mich aufs Bett.
    Ich konnte es nicht fassen.
    Jean-Luc hatte sich das gleiche Ende gesucht wie Séraphine.
    War er Opfer einer überbordenden, kranken Phantasie geworden, oder hatte er tatsächlich etwas gesehen, was ihn überrollt hatte wie eine alles verschlingende Welle?
    Plötzlich kam mir dieser seltsame deutsche Offizier in den Sinn, von dem der Marquis gesprochen hatte. Er war der einzige konkrete Anhaltspunkt im Flusse eines wahnwitzigen Berichtes: Friedrich von Rotha.
    Irgendeine Spur von ihm würde zu finden sein, wenn aus Jean-Luc nicht nur blanker Irrsinn gesprochen hatte.
    Ich ließ mir eine Flasche Rotwein aufs Zimmer kommen, und nachdem ich

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