Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Boden, verrieb den Auswurf mit der Spitze seines Schuhs und entzündete sich eine Zigarre.
Der Raum, in dem wir saßen, war der größte von allen, die ich bislang gesehen hatte, und mit einer Unzahl großer und kleiner Spiegel ausgekleidet, die in die Wände eingelassen waren und das Feuer, das an seinem anderen, entfernten Ende in einem Kamin brannte, vielfach reflektierten und magisch vergrößerten.
Die übrigen Flächen und Zwischenräume hatte man mit blauen Seidenstoffen bespannt, die an einigen Stellen so brüchig waren, daß hinter ihnen das bloße Mauerwerk aufschien.
Ein abgedecktes Instrument, vermutlich ein Flügel, stand in der Mitte des Saales, den beiden Sesseln gegenüber ein altes, mit bukolischen Landschaften bemaltes Cembalo, über dem ein Gemälde hing, das dem Bild, welches mir im Auge des alten Marquis erschienen war, fast vollkommen glich.
Wieder sah ich in das Gesicht von Marie-Élisabeth de Montrague, die an ihrem Instrument saß (es war dasselbe, das leibhaftig unter dem Bild stand!), jetzt aber statt eines Notenblatts eine Spieldose in der Hand hielt.
Es war ein quadratisches Kästchen aus dunklem Holz, nicht sehr groß und mit feinen Perlmuttintarsien und goldglänzenden Beschlägen verziert. In seine Oberfläche war eine Metallscheibe eingelassen, auf der eine kleine Porzellanfigur stand.
Mir schien außerdem – und das war merkwürdig –, als sei die Marquise dreidimensional und die Leinwand eine Glasscheibe, hinter der sie leibhaftig saß.
O Wilhelm, nie habe ich etwas Schöneres gesehen!«
JEAN-LUC VERSTUMMTE Und ließ den Kopf hängen. Vielleicht hatte sich ihr Bild verflüchtigt, und ihm blieb nur der Schmerz, etwas verloren zu haben, das ihm wichtiger war als sein Leben.
Plötzlich sprang er auf, warf seine Arme dem Mond entgegen und schüttelte sie, als wollte er den Trabanten vom Himmel holen. Dann schrie er. Es war der wüste, urhafte Schrei einer Kreatur, die sich quält und keine Hoffnung mehr hat.
Ich hielt den Atem an.
Er sank auf die dunkle Wiese und blieb dort regungslos liegen. Nach einer Weile richtete er sich auf und wandte sich mir zu.
Er weinte.
Aber dann lächelte er plötzlich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Die Marquise schien wieder vor sein Auge getreten zu sein, anders und noch begehrenswerter, wie eine Verheißung, daß alles gut werde und er sie bald wiedersehe.
»Sie sah mich mit einem Ausdruck an, Wilhelm«, fuhr er fort, »der mich im Innersten erschütterte. Ihr Lächeln war von strahlender Offenheit, und doch wohnte ihm zu gleicher Zeit eine feine, fast geheimnisvolle Zurückhaltung inne, die es vielschichtiger und lebendiger machte, als vielleicht je ein Bildnis jener Epoche gewesen ist. Ich kann dir die Schönheit ihrer Haltung und ihres Gesichtes nicht mit Worten beschreiben, ich fühlte nur, daß es der Ausdruck eines Menschen war, dessen Herz und Sinne einem anderen zufliegen, den er in der ganzen Tiefe seiner Seele liebt.
Und dieser andere, davon war ich nicht nur überzeugt, ich wußte es einfach – dieser andere war ich!
WAS SOLL ICH DIR Sagen?
Ich hätte sterben können vor Glück, ich fühlte mich emporgehoben in Sphären, die ich nie zuvor gekannt, ja nicht einmal erahnt hatte. Dieses Glück besaß nichts von dem, was jeder von uns einmal erlebt, wenn er sich einem anderen Menschen hingibt. Es war das Wiederfinden eines verlorenen Teils, eines weggebrochenen Lebens, und die Seligkeit, die man empfindet, wenn verschüttete Schichten der Seele, wie durch ein Wunder befreit, unvermittelt offen daliegen und Bilder auferstehen, die längst vergessen schienen.
Plötzlich verband sich der sonderbare Geruch des verspiegelten Saales mit den zauberischen Düften der Kindheit, und für eine kurze Ewigkeit bewegte ich mich in einem Bezirk, der weit jenseits der Realität in einem verschlossenen Traum lag und doch wirklicher war als alles, was sich mir im Leben bis dahin sichtbar gezeigt hatte …
Ein Schuß riß mich aus meinen Gedanken.
Ich fuhr zusammen, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Stuck und Mörtel rieselten von der Decke, und ein dunkler Gegenstand fiel dumpf zu Boden.
Amadé hielt eine Flinte in der Hand, aus deren Lauf ein dünner Faden Rauch aufstieg. Er hatte irgendwo in den oberen Teil des Raumes geschossen, und nun erhob er sich und las ein Tier vom Boden auf, das einem Eichhörnchen nicht unähnlich sah.
›Ein Siebenschläfer, mein Bester. Possierliche Tierchen, die hier massenhaft zur
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