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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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zwei Gläser getrunken hatte, beruhigte ich mich allmählich. Schließlich zog ich den Brief hervor, öffnete ihn vorsichtig und entnahm ihm ein Blatt Papier.
    Es war leer.
    LANGE SASS ICH NOCH WACH und versuchte Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
    Was hatte mir Jean-Luc mit seinem Brief sagen wollen?
    Ein Brief, der keiner war.
    Ein Irrtum vielleicht, ein Zeichen fortgeschrittener Verwirrung, oder enthielt das unbeschriebene Blatt Papier etwa eine geheime Botschaft, geschrieben mit unsichtbarer Tinte, die zu entschlüsseln er mich aufforderte?
    Ich dachte an Séraphine, den Geiger Vialli, Amadé, Arabella und die schöne Marquise, und ich fragte mich, ob diese Gestalten in irgendeiner geheimen Beziehung zueinanderstanden oder ob sie nur ein launiges Schicksal willkürlich und ohne tieferen Sinn miteinander verbunden hatte.
    Bevor ich mich schließlich müde und verwirrt ins Bett legte, hatte ich beschlossen, in Frankreich zu bleiben und gleich am nächsten Tag nach Aumont zu fahren, um Jean-Lucs Spur aufzunehmen.
    IN DER NACHT SANKEN die Temperaturen in Paris auf ein Niveau, wie man es dort nur selten erlebt, und als ich am nächsten Morgen aufbrach, um mir in der Nähe des Gare St. Lazare ein Auto zu mieten, waren schon überall Fahrzeuge der städtischen Verwaltung unterwegs, um Sand oder Salz auf die vereisten Straßen zu streuen.
    Die Dächer und oberen Etagen der prächtigen Gebäude am Boulevard Haussmann brannten im scharfen Licht der Morgensonne, während die Menschen in den schattigen Häuserschluchten frierend und mit weißem Atem vor den Mündern ihrer Arbeit entgegeneilten.
    Gegen zehn Uhr verließ ich die Stadt und machte mich auf den Weg nach Senlis, die Abzweigung hinter der Tankstelle in Aumont, von der Jean-Luc berichtet hatte, fand ich ohne Probleme.
    Nach einer Fahrt über die verschneite Landstraße, die mir schier endlos schien, kam ich schließlich durch Apremont, aber Vineuil, das auf einem verschrammten Straßenschild angekündigt war, tauchte nicht auf.
    Ich muß bald eine Stunde weitergefahren sein, ohne auf irgendeine Spur von Zivilisation zu stoßen, als ich über eine schadhafte, hölzerne Brücke kam, unter der sich ein kleiner Fluß staute.
    VIEL UNGEREIMTES und Merkwürdiges hatte ich mit dieser Filmproduktion schon erlebt, aber das, was jetzt geschah, stellte alles in den Schatten.
    Ich hielt den Wagen an und stieg aus.
    Vor ein paar Stunden erst war ich im winterlichen Paris losgefahren, über verschneite Landstraßen, hatte diese kleine Brücke überquert, und nun war schlagartig alles anders.
    Es herrschten Temperaturen von nahezu dreißig Grad, alles war grün, blühte und leuchtete, die Lerchen standen am wolkenlosen Himmel und sangen, es war Sommer. Und was für ein Sommer! Als hätte er hier schon vor langem Einzug gehalten und es nie einen Winter gegeben.
    Träumte ich, oder war ich unversehens in eine Welt hineingeraten, die sich dicht neben der unseren befand und ihr Dasein parallel gestaltete? Unsichtbar für uns, doch ebenso real für jene, die ihrer Sphäre angehörten?
    An irgendeinem Punkt, so ging es mir durch den Kopf, mußte ich eine Trennungslinie durchstoßen haben, eine unsichtbare Wand, eine Art Membran, die beide Welten so radikal voneinander trennte, daß keine von der anderen wußte.
    Ohne darauf zu achten, war ich in Gedanken auf der schmalen Straße weitergelaufen.
    Der Teerbelag war Sand und hellem Schotter gewichen, und in sanfter Windung lief sie auf ein Wäldchen zu, das sich in einiger Entfernung auf einer Anhöhe hinter einem Getreidefeld erhob.
    An der Stelle, wo sie im Wald verschwand, war linker Hand eine kleine, weiße Kapelle zu erkennen.
    Ich blickte zurück, um nach meinem Fahrzeug zu sehen, aber dort, wo ich es vermutete, stand es nicht mehr. Ich überlegte, was ich tun sollte, da zerriß lautes Motorengeräusch die Stille dieses unwirklichen Sommertags.
    VOM WALDRAND HER bewegten sich zwei schwarze Limousinen auf mich zu, wie ich sie aus alten Filmen kannte. Und als sie näher kamen, sah ich, daß es ein Horch und ein Mercedes waren, beide wenigstens siebzig Jahre alt.
    Ich weiß nicht genau, warum, aber ich hatte das Gefühl, es wäre besser, man würde mich nicht sehen, und so sprang ich ins Feld hinein und versteckte mich hinter einem der Schlehenbüsche, die den Straßenrand säumten.
    Keine zwanzig Meter hinter mir hielten die Wagen knirschend an, und aus dem vorderen stiegen drei Männer, die Uniformen der deutschen Wehrmacht trugen.

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