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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Hintergrund auftrat und dazu blecherne Musik erklang, starrte sie auf einmal gespannt zur Bühne. Dann kam der Tiger, ein kunstvolles Geschöpf mit großem Kopf und breiten, flachen Zähnen, das sich vor Zorn und Hunger wand. Milo kannte die Geschichte nicht, aber sie war anscheinend ziemlich schlicht: Beim Überqueren des Bergzugs Jingyang tötet Wu Song mit bloßen Händen einen Tiger und wird durch diese Tat berühmt. Trotzdem war es eine meisterhafte Darbietung, ein Tanz zwischen Wu Songs Kampfkünsten und den gerissenen Attacken des menschenfressenden Tigers. Als den Tiger schließlich sein Schicksal ereilte, saß Stephanie nach vorn gebeugt da und kniff vor Aufregung in den Stoff ihrer Jeans. Neben Tina flüsterte Penelope: »So läuft das bei denen.«
    Erst später in einem Café am Union Square führte sie das bei einem Vanilleeis näher aus. »Den Rest der Geschichte haben sie nicht erzählt, und das wundert mich nicht. Der alte Wu Song war ein echter Killer. Um den Giftmord an seinem Bruder zu rächen, enthauptet er später dessen Frau und tötet ihren Geliebten.«
    »Wirklich?«, entfuhr es Stephanie.
    »Eine von diesen netten Geschichten über leichte Mädchen, die sich zu einem Mord verführen lassen und dann ihre gerechte Strafe bekommen.« Sie zwinkerte Stephanie zu. »Lass dir das eine Lehre sein.«
    Auf dem Weg zurück nach Brooklyn zirpte Milos Telefon, und er entdeckte eine Einladung seines Vaters – RESTAURANT BYBLOS 11.00 – , die er gleich per SMS annahm.
    »Wer war das?« Tinas Frage drang durch das Rumpeln der U-Bahn.
    »Jewgeni. Wir gehen mit ihm essen.«
    »Grandpa?« Stephanies Augen strahlten.
    »Morgen oder Dienstag. Ich bin zuerst dran, am Abend könnt ihr ihn dann ganz für euch allein haben.«
    »Und mich seid ihr dann auch wieder los«, bemerkte Penelope. »Das neue Bett und ein paar Möbel werden morgen geliefert.«
    »Du kannst gern bleiben«, erwiderte Tina ein wenig zu schnell. »Wenn du willst. Ich meine, wenn du dich dort nicht wohlfühlst.«
    »Danke.« Penelope schien ihr zu glauben.
    In Wirklichkeit konnten es Tina und Milo gar nicht erwarten, dass sie endlich wieder verschwand.
    Am Montagmorgen, dem Tag des öffentlichen Dienstes, fuhr Tina zur Arbeit, und Milo brachte Stephanie zum Feriencamp Friendship an der Ecke Sixth Avenue und Eighth Street. Auf dem Heimweg wählte Milo die Washingtoner Nummer, die ihm Chaudhury gegeben hatte. Zum Teil wollte er sich damit auf die Fragen seines Vaters vorbereiten – Woher willst du überhaupt wissen, wer dieser Chaudhury ist? – , doch vor allem wuchs seine Neugier, und er wollte einfach in Erfahrung bringen, wer da nach Alan Ausschau hielt.
    Nach drei Klingeltönen meldete sich eine Frauenstimme. »Büro von Direktor Rollins.«
    »Ich möchte mit Mr. Rollins sprechen.«
    »Ihr Name?«
    »Milo Weaver.«
    »Und worum geht es?«
    »Um einen seiner Mitarbeiter.«
    »Name?«
    »Dennis Chaudhury. Soll ich es buchstabieren?«
    »Nein danke, Sir.« Sie machte eine Pause, vielleicht um alles einzutippen. »Direktor Rollins ist heute nicht im Büro. Kann er Sie unter dieser Nummer erreichen?«
    »Ja. Sie haben sie notiert?«
    »Ja, Sir. Ist Ihnen morgen Vormittag um elf Uhr recht?«
    »Ich denke schon.« Er bemühte sich um einen freundlichen Ton. »Wie heißt die Sektion des Direktors?«
    »Das wissen Sie nicht?«
    Er zögerte. »Hab’s vergessen.«
    »Nun, Mr. Weaver. Diese Sektion ist wie ein teures Restaurant. Wenn Sie erst fragen müssen …«
    Mit Verspätung traf er seinen Vater im Byblos, einem gehobenen, gut besuchten libanesischen Restaurant unweit der UN-Zentrale. Jewgeni wischte bereits mit einem gebackenen Stück Pitabrot Hummus und Pinienkerne auf einem öligen Tellerchen herum. Er leckte sich die Finger und rieb sie dann an der Hose sauber, als er aufstand, um seinen Sohn zu begrüßen. Ein ziemlich erstaunliches Benehmen für einen Mann, der in den Jahrzehnten, seit Milo ihn kannte, immer stolz auf sein vornehmes Auftreten gewesen war. Als er wieder saß, scharrte er sich über die Wange, wie um eine Fliege zu verscheuchen – ein alter Tick von ihm. Inzwischen war er einundsiebzig. Milo waren zwar schon früher Anzeichen eines allmählichen Niedergangs bei seinem Vater aufgefallen, aber das Alter hatte er ihm noch nie so angemerkt.
    Um die Sache zu beschleunigen, hatte Jewgeni für sie beide Vorspeisen ausgesucht – für Milo ein würziges Kafta Koush Kash und ein Bratfischgericht namens Sultan Ibrahim für sich. Als der

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