Die Spinne (German Edition)
Kellner verschwunden war, bot er Milo den Hummus an. Milo lehnte ab, also tunkte Jewgeni weiter und biss ab. Dann sprach er mit halb vollem Mund auf Russisch – auch das war sehr ungewohnt. »Ich glaube nicht, dass dein Freund tot ist.«
»Ich auch nicht«, antwortete Milo. »Die Frage ist: Wo ist er?«
Jewgeni zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Kurz vor vier Uhr morgens am Samstag, den 14. hat jemand die Überwachungskameras des Hotels sabotiert. Nach ungefähr fünfzehn Minuten haben die Angestellten sie wieder zum Laufen gebracht, dann sind sie erneut ausgefallen. Insgesamt waren sie ungefähr eine halbe Stunde außer Betrieb.«
»Da könnte also jeder reingegangen sein und ihn entführt haben.«
»Aber er wurde nicht entführt.«
»Was?«
Jewgeni lächelte. »Das Stadtgebiet von London ist genauso mit Kameras gespickt wie das Hotel.«
Milo strich sich über die Nasenwurzel. Er hatte ganz vergessen, dass Jewgeni oder seine Freunde Zugang zu den Kameras der Polizei hatten. »Er ist also allein weggegangen?«
»Hat das Hotel verlassen und ist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, bevor er zu einer Straße ohne Kameras kam. Dort hat er sich in Luft aufgelöst.«
Das war immerhin etwas, und Milo spürte das plötzliche Nachlassen einer Anspannung im Rücken, von der er gar nichts gemerkt hatte.
Jewgeni fuhr sich über die Wange. »Komischer Kauz, dein Freund.«
»Ich weiß.«
»Rat mal, wie er nach London gekommen ist.«
»Flugzeug.«
»Fünf Flugzeuge. Von New York nach Seattle. Von dort mit dem Auto nach Vancouver, dann mit einer Maschine nach Tokio. Dann weiter nach Mumbai. Von Mumbai nach Amman, von dort nach London. Bei jedem Flug ein anderer Name. Der eigene nur auf dem ersten nach Seattle.«
Alan hatte den ganzen Planeten umrundet, um nach London zu gelangen. »Wie lange hat das gedauert?«
»Vier Tage. In Mumbai und Amman hat er den Flughafen kurz verlassen. In Tokio hat er im International Terminal auf die nächste Maschine gewartet.«
»Hast du diese Informationen vom MI5?«
»Einiges davon. Sie wussten, dass er von Jordanien gekommen ist; den Rest habe ich ergänzt.«
»Was wissen sie sonst noch?«
»Er ist am Donnerstag, den 12. spätnachts in London eingetroffen. Ist im Rathbone Hotel abgestiegen und hat am Freitag von seinem Zimmer aus ein einziges Telefongespräch mit einem Zimmer im dritten Stock geführt, in dem ein gewisser Gephel Marpa angemeldet war. Soll ich es buchstabieren?«
»Ja bitte.« Nachdem er sich den Namen eingeprägt hatte, fragte Milo: »Tibeter?«
»Sehr gut. Langjähriges Mitglied der Bewegung Free Tibet. Wohnt in London, das heißt, Mr. Marpa hat das Hotel nicht ohne Grund besucht.«
»Sie haben sich also getroffen?«
»Vielleicht – niemand weiß es. Zumindest hat der MI5 noch nichts verlauten lassen. Am Samstagnachmittag, also nach Alan Drummonds Verschwinden, hat Marpa das Hotel verlassen und ist in sein Haus in Südlondon zurückgekehrt.«
»Wie hat sich Alan ernährt?«
»Zimmerservice.«
»Also kommt er am Donnerstag mit dem Flieger an, verbringt den Freitag auf seinem Zimmer. Redet vielleicht mit Marpa, vielleicht auch nicht. Dann legt jemand die Überwachungskamera lahm, und er spaziert raus.«
Sein Vater nickte.
»Aber wozu das Ding überhaupt sabotieren? Er wusste doch, dass ihn die Straßenkameras wieder ins Bild kriegen.«
Jewgeni atmete tief durch. »Schwer zu sagen.«
»Leticia Jones«, meinte Milo nach kurzer Überlegung. »Sie war auch in diesem Hotel; sie muss die Kameras abgeschaltet haben.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Sie war es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Darf ich denn gar keine Geheimnisse mehr vor dir haben?« Jewgenis alter Charme blitzte wieder auf. »Glaub mir, mein Sohn. Diese verführerische Touristin hat sie nicht abgeschaltet.«
Milo musterte ihn stirnrunzelnd. Wusste sein Vater, wer die Kameras lahmgelegt hatte, und wollte es ihm nicht anvertrauen? Dieses Widerstreben konnte viele Gründe haben, Gründe, die nicht das Geringste mit Alans Situation zu tun hatten. »Wenn es nicht darum ging, Alan einen heimlichen Abgang aus dem Hotel zu verschaffen, dann sollte jemand getarnt werden, der zu ihm gekommen ist, um mit ihm zu reden. Alan ist vielleicht allein rausgegangen, aber ich wette, dass ihn jemand anders dazu gebracht hat, abzuhauen. Durch Drohungen vielleicht.«
Jewgeni wölbte die Augenbrauen. »Eine von vielen Möglichkeiten.«
Milo starrte kurz an seinem Vater vorbei zu
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