Die Sprache des Feuers - Roman
er beantwortet Fragen und plaudert munter drauflos. Außerdem: Wenn sich der Mann sträubt, Harmloses preiszugeben, wird er sich auch gegen alle anderen Fragen sträuben, und man darf sich fragen, was er zu verbergen hat.
Natürlich weiß Jack, was jeder Ermittler weiß: Je mehr einer redet, um so größer die Chance, dass er sich verplappert, in Widersprüche verstrickt, zu lügen anfängt – und das auf Band.
Die meisten Leute reden sich um Kopf und Kragen.
Und natürlich kennt Jack die absolute Grundregel: Wenn du um vier Uhr morgens von der Polizei aus dem Bett geholt wirst, und sie wollen deine Aussage, sei es zum Kennedy-Mord, zur Lindbergh-Entführung oder zur Komplizenschaft mit Pontius Pilatus, gibt es nur eins: Aussage verweigern. Egal wonach sie fragen: Nach deiner Schuhgröße, deiner Lieblingsfarbe, deinem Abendessen – sag ihnen kein Wort. Wenn sie dich fragen, ob es nachts dunkler ist als am Tag, ob hoch höher ist als tief – schweig wie ein Grab.
Es gibt nur vier Wörter, die du sagen darfst, und die lauten:
Nicht ohne meinen Anwalt.
Und wenn dein Anwalt dann eintrifft, wird er dir denselben klugen Rat geben.
Er wird dir sagen: Halt um jeden Preis die Klappe.
Und wenn du das tust, wenn du seinen klugen Rat befolgst, wirst du das Verhör aller Wahrscheinlichkeit nach als freier Mann überstehen.
Dass Leute plaudern, hat gewöhnlich drei Gründe.
Erstens, sie haben Angst.
Nicky Vale hat keine Angst.
Zweitens, sie sind dumm.
Nicky Vale ist nicht dumm.
Drittens, sie sind arrogant.
Bingo!
Nicky Vale fängt an zu plaudern.
Er ist in St. Petersburg geboren, das zu der Zeit Leningrad hieß, dann wieder in St. Petersburg umbenannt wurde. Doch es ist ihm scheißegal, wie sich das Kaff nannte, denn das Leben in St. Petersburg war für einen Juden keinen Deut lustiger als das Leben in Leningrad.
Du kannst deinen Namen ändern, wie du willst, du bleibst immer Jude (so Nicky, der es schließlich wissen muss), und Russen bleiben immer Russen. Ganz gleich, ob sie sich Zaristen, Bolschewisten, Stalinisten oder Perestroikisten nennen – sie sind und bleiben Antisemiten.
»Wir waren ein unverzichtbares Bindeglied der russischen Gesellschaft«, so Nicky. »Über Jahrhunderte haben wir ihnen einen Riesengefallen getan, indem wir sie alle in ihrem Judenhass vereinten.«
Nicky wächst also als Außenseiter auf. Ausgeschlossen von der Sowjetgesellschaft, lebt er in einem sozialen Ghetto.
»Im Unterschied zu diesen kommunistischen Idioten hatten wir Kultur. Wir hatten einen Gott, wir hatten die Literatur, die Musik, die Kunst. Wir hatten eine Vergangenheit, Jack, die uns trotz aller politischen Säuberungen niemand nehmen konnte. Was den Juden ausmacht, ist seine jüdische Vergangenheit. Also haben sie uns ausgeschlossen. Ausgeschlossen wovon?«
Natürlich nicht von der Armee.
Nicky muss einrücken. He, Jude, wir machen dir schon Beine.
Geht’s dir als Jude in Leningrad zu gut, kommst du nach Afghanistan. Dort hassen sie dich doppelt – als Juden und als Russen. Kannst dir aussuchen, was dir lieber ist. Es ist wie Hass im Quadrat oder in dritter Potenz.
Und Nicky stellt sich nicht besonders geschickt an.
»Ich war blöd«, sagt er. »Ich habe den Davidstern am Kettchen getragen. Wozu? Damit sie mich doppelt foltern können, wenn sie mich erwischen? Aber wenn du jung bist ...«
Nicky hat den Ausflug ins Reich der Mullahs überlebt.
Doch was erwartet ihn in Leningrad?
Die alte Misere.
Also will er weg.
»Als die Perestroika kam, kratzten sich die Machthaber beim Volk ein, indem sie die rausließen, die sie sowieso loswerden wollten.«
Diese Heuchelei findet Nicky atemberaubend, aber ihm ist es nur recht. Als das Tor aufgeht, nutzt er seine Chance. Mutter will nach Israel, aber Nicky ...
»Den Krieg hab ich erlebt«, sagt er. »Ich habe genug zerfetzte Menschen gesehen. Und Israel, ganz ehrlich ...«
Nicky hat andere Pläne. Nicky hat von dem Land mit den traumhaften Stränden gehört, wo man mit Energie, Geschick und Ausdauer sein Glück machen kann, auch wenn man kein Geld hat, keine Beziehungen, keine tolle Ausbildung. Nicky will nach Kalifornien.
Ein paar Verwandte haben sie hier. Die sind schon länger da und haben sich in L . A . was aufgebaut. Sie besorgen Nicky einen Job: Er fährt Leute zwischen der City und dem Flughafen hin und her. Ein paar Jahre, und er hat sein eigenes Auto, dann zwei, dann drei. Dann einen Gebrauchtwagenhandel, dann einen Ersatzteilgroßhandel. Dann tut er
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