Die Sprache des Feuers - Roman
vom anderen ab – und schon wird der Fehler, falls es denn einen gab – zur unumstößlichen Wahrheit.
Jack fängt ganz von vorne an.
Vergisst alle Befunde und Vermutungen und hört zu, was ihm das Feuer zu sagen hat.
Zuerst einmal sagt es ihm, dass in diesem Zimmer eine Menge Zeug verbrannt ist, denn er steht bis zu den Knöcheln in den verkohlten Resten. Er schaltet das Diktaphon unter seinem Hemd an und hält seine Beobachtungen fest.
»Notiz: Brandreste knöchelhoch. Verweisen auf eine hohe Brandlast. Ob vorwiegend tote oder lebende Brandlast, bleibt vorerst offen.«
Die vielen Brandreste verraten ihm noch einiges mehr, was er aber nicht auf Band spricht. Gewöhnlich verweisen sie auf ein schnelles, heißes Feuer, sonst hätte in der kurzen Zeit bis zum Eintreffen der Feuerwehr nicht so viel verbrennen können.
Als Nächstes schaut er sich die Brandmuster an.
Wenn das Feuer eine Sprache spricht, dann sind die Brandmuster ihre Grammatik, ihre Satzstruktur. Und die Sprache dieser Muster hier klingt wie Kerouac auf Speed – weil sie nur Verben aneinanderreiht; die Muster sprechen von einem Feuer, das nicht stillstand, sondern raste , ohne Punkt und Komma.
Besonders das »Alligatormuster«, wie es bei den Brandspe-zialisten heißt. Was aussieht wie die Haut eines Alligators, kommt zustande, wenn sich ein sehr heißes Feuer sehr schnell über brennbare Gegenstände bewegt. Dann hinterlässt es scharfe Linien zwischen dem, was brannte, und dem, was nicht brannte – und das Bild einer Alligatorhaut.
Je heißer und je schneller das Feuer, um so größer der Alligator.
Jack sieht sich mit einem ziemlich gefräßigen Alligator konfrontiert.
Er besichtigt die verkohlten Reste der teuren Goldtapete und fragt sich, ob diese Tapete, teuer wie sie war, einen so hungrigen Alligator sattmachen konnte.
Auch diesen Gedanken vertraut er dem Diktaphon nicht an, sondern behält ihn lieber für sich. Er sagt nur: »Entlang der westlichen Schlafzimmerwand sehe ich großflächige Alligatormuster.«
Etwas sehen ist eine Sache, Dokumentieren eine andere. Da in dem Zimmer alles schwarz ist, kommt Jack mit einfachen Fotos nicht weiter. Er steckt sein Blitzlicht auf und »malt« das Zimmer mit Licht.
Stellt sich in eine Ecke und knipst das Zimmer von links nach rechts, Abschnitt für Abschnitt. Das Ganze erst in Farbe, dann noch einmal in Schwarzweiß. Dann stellt er sich in die nächsteEcke und macht das Ganze noch einmal und so weiter und so fort, bis er das ganze Zimmer im Kasten hat. Zu jedem Foto macht er sich eine gesonderte Notiz und spricht dazu auf Band, was er gerade tut.
Danach zeichnet er eine Lageskizze und notiert, wo er bei jedem Foto stand und welcher Teil des Raums erfasst wurde. Es könnte ja sein, dass ihn ein ganz schlauer Anwalt fragt: »Sie wissen also nicht genau, wo Sie standen, als Sie dieses Foto aufgenommen haben?« Dann zückt Jack sein Notizbuch und sagt: »Doch, das weiß ich ganz genau, denn ich notiere mir grundsätzlich die Position, von der aus ich ...«
Natürlich klappt das nur, denkt Jack, wenn man die Position jedesmal notiert. Bei jedem Foto. Deshalb nimmt er sich Zeit, lässt keinen Schritt aus.
Nächster Schritt: das Vermessen.
Er holt das Stahlband heraus und vermisst das Zimmer und notiert die Punkte, von denen seine Quervermessungen ausgehen. Er gibt mehrere solcher Messpunkte, denn die großen Möbel im Zimmer haben Hitzeschatten hinterlassen.
Helle Flächen an den Wänden – umgekehrte Silhouetten, wenn man so will –, wo die Möbel die Wand vom Flashover abschirmten. Also benutzt er zwei Hitzeschatten als Messpunkte und hört weiter zu, was ihm das Feuer zu sagen hat.
Die Verkohlungen an den Balken.
Das gleiche Alligatormuster an der Unterseite der Balken mit scharfen Abgrenzungen zum unverbrannten Holz darüber.
Nichts, was Jack überraschen könnte. Das Feuer brennt von unten nach oben, folglich sind die Unterseiten der Balken stärker verkohlt. Und über dem Bett, wo das Feuer am längsten brannte, erwartet er die stärksten Verkohlungen. Was er nicht unbedingt erwartet hat, sind mehrere Stellen im Zimmer, wo die Balken stärker verkohlt sind als anderswo. Eine an der gegenüberliegenden Wand, eine neben der Garderobe, eine neben der Badezimmertür.
»Notiz: Starke Verkohlung der Dachbalken über dem Bett. Außerdem: stärkere Verkohlungen in der Nähe der Garderobe und der Badezimmertür.«
Jack bohrt mit dem Stahllineal in einen verkohlten Balken über dem Bett.
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