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Die Sprache des Feuers - Roman

Die Sprache des Feuers - Roman

Titel: Die Sprache des Feuers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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jüdischen Verbrecher, die neben Christus gekreuzigt wurden.
    Dann ritzen sie ihm das Handgelenk auf und auch ein paar alte Narben an ihrem eigenen Handgelenk und pressen sie aneinander, während Valeshin sein Gelübde spricht: »Ich werde die Statuten des worowskoi sakon stets befolgen. Ich werde meinen Brüdern stets zu Hilfe eilen. Ich werde meine Brüder nie betrügen, ich werde mich der Autorität meiner älteren Brüder beugen, ich werde bei allen Streitigkeiten auf den Ratschluss meiner Brüder hören, ich werde die Bestrafung von Verrätern übernehmen, wenn meine Brüder mich darum bitten. Ich werde niemals mit der Staatsmacht kooperieren ...«
    Ziemlich rührselig das Ganze, denkt Valeshin, aber was soll’s.
    »Ich werde meine Familie verlassen«, spricht ihm Dani vor, »ich kenne keine Familie außer Doppelkreuz ...«
    Das geht ihm nun doch zu weit.
    Dani wiederholt: »Ich werde meine Familie verlassen. Ich kenne keine Familie außer Doppelkreuz ...«
    Verzeih mir, Mutter, sagt sich Valeshin, und spricht Dani nach: »Ich werde meine Familie verlassen. Ich kenne keine Familie außer Doppelkreuz ...«
    »Wenn ich dieses Gelübde breche, will ich in der Hölle schmoren.«
    Fortan wagt niemand mehr, ihm zu nahe zu treten. Nachdem er Tillanin vom Thron gestoßen hat, ist er der unangefochtene Boss, mit Dani und Lev als Leibwächtern. Jeder mögliche Angreifer weiß a), dass er wahrscheinlich den Kürzeren zieht, b), dass er es, wenn es ihm dennoch gelingen sollte, alle drei zu erledigen, mit den übrigen dreihundert Mitgliedern von Doppelkreuz zu tun kriegt, die ihn entweder gleich im Gefängnis umlegen oder sofort nach seiner Entlassung.
    Keiner, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, wird dieses Risiko eingehen.
    Und Valeshin genießt seine neue Macht.
    Lebt auf großem Fuße, zumindest für russische Knastverhältnisse.
    Bekommt Nachschlag zur Gefängnissuppe, eine zusätzliche Decke, immer mal eine Zigarette, einen Schluck Wodka, der in einem versteckten Winkel der Gefängnisküche aus Kartoffelschalen gebrannt wird. Man bietet ihm sogar bevorzugten Zugriff auf einen der Strichjungen, der mit ein bisschen Make-up beinahe als Frau durchgehen könnte.
    Doch darauf verzichtet Valeshin dankend. Er tröstet sich mit den kleinen Privilegien, die er als Zellenboss genießt, und träumt lieber von den California Girls .
    Er sieht Sträflinge, die vor Erschöpfung zusammenbrechen oder von den Wachen zusammengeschlagen werden und einfach liegenbleiben, und er schwört sich, dass ihm das nie passieren wird. Auch Lev und Dani nicht, denn sie sind Brüder, und sie schützen sich gegenseitig. Und wenn das den Wachen nicht gefällt, lassen sie sich eher alle umbringen, als einen von sich zu opfern.
    Aber Valeshin denkt nicht ans Sterben.
    Er denkt ans Leben und muntert auch Lev und Dani auf. Er weiß genau, dass es nicht reicht, körperlich zu überleben – auch Herz und Seele müssen überleben, und der Kopf muss wach bleiben. Also erzählt er ihnen Geschichten von Amerika. Geschichten von sonnigen Stränden, schnellen Autos, schönen Häusern und noch viel schöneren Mädchen.
    Das alles werde ich euch verschaffen, flüstert er ihnen zu.
    Versprochen ist versprochen, Brüder.
    Ihr folgt mir ins Paradies.

54
    Mutter macht ihm eine höllische Szene.
    Sofort nach seiner Entlassung hat Valeshin ein Visum beantragt, und Karpozow hat dafür gesorgt, dass der Antrag durchlief wie geschmiert. Diesmal gibt es keinen Spaziergang im Gorki-Park. Diese Zeiten sind vorbei – es wäre fatal, wenn man ihn mit einem KGB -Oberst ertappen würde. Doppelkreuz würde ihn schlachten wie ein Huhn. Er empfängt seine Instruktionen über einen toten Briefkasten, und die Instruktionen sind sehr klar: Geh nach Amerika, mach Geld wie Heu und schick es an uns.
    Als Mutter sieht, dass er seine Siebensachen packt, fängt sie an zu schreien. Sie heult und jammert, sie krallt sich an ihm fest, und sie schluchzt: »Nimm mich mit! Du hast es versprochen!«
    »Es geht nicht. Noch nicht.«
    »Warum nicht?«
    Das darf er nicht sagen. Er hat ein Gelübde abgelegt. Doppelkreuz würde ihn erschießen wegen dieser Übertretung oder ihn als Verräter entlarven – und erst recht erschießen. Und vorbei wäre es mit ihm und dem Traum von Amerika.
    Also wiederholt er: »Es geht nicht. Noch nicht.«
    »Du liebst mich nicht.«
    »Doch, ich liebe dich.«
    Sie klammert sich an ihn. »Wie kannst du mich nur verlassen?«
    »Ich lasse dich holen.«
    »Du

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