Die Sprache des Feuers - Roman
locken ließ.
»Kann ich nicht einfach ein Vorstrafenregister kriegen?«, fragt Valeshin.
»Natürlich bekommst du das, Genosse, aber das reicht nicht aus. Du brauchst auch Erfahrungen und Beziehungen, die gibt es nur im Gefängnis.«
»Wie lange?«, fragt Valeshin.
»Nicht sehr lange«, sagt Karpozow. »Achtzehn Monate, denke ich, für gewöhnlichen Diebstahl. Ich könnte es auch befehlen, Genosse, aber das ist wohl nicht nötig.«
Anderthalb Jahre Gefängnis? Valeshin bleibt fast die Luft weg.
»Ich weiß nicht, Genosse Oberst ...«
»Vielleicht könnten wir auch die Ausreise für deine Mutter vorbereiten«, sagt Karpozow.
Karpozow ist ein eiskalter, durchtriebener Hund. Er weiß genau, welche Platte er auflegen muss – und wann er sie auflegen muss.
Valeshin sagt: »Ein paar Monate Gefängnis – das stehen wir durch.«
Na also.
52
Valeshin ist kaum zehn Minuten in seiner Zelle, als ihn ein hünenhafter alter Sträfling namens Tillanin in die Ecke drängt, ihm einen spitzen Gegenstand in die Rippen stößt und zur Begrüßung erst mal seine Decke und die nächste Mahlzeit einfordert.
Valeshin ist kaum zehn Minuten und 0 , 00025 Sekunden in seiner Zelle, als er Tillanin mit einem flinken Fingerhaken den linken Augapfel aushebelt, der noch vor Tillanin auf dem dreckigen Betonfußboden landet.
Tillanin wälzt sich brüllend am Boden und will sein Auge finden, bevor es in der überfüllten Zelle zertrampelt wird. Als würde ein Team von Notärzten nur darauf warten, ihm das Auge wieder einzusetzen.
Valeshin ist schon längst in einer anderen Ecke der Zelle, als die Wachen kommen, um den Täter festzustellen, und die anderen Häftlinge sagen kein Wort, wissen eh nur vom Hörensagen, dass es der Neue war, Valeshin.
Zwei allerdings haben die Sache genau verfolgt. Ein untersetzter, stämmiger Moskauer Straßenräuber namens Lev und ein langer, dürrer Erpresser aus Odessa, der Dani heißt. Und beide staunen sehr über die Tollkühnheit oder Dummheit dieses Neulings, sich mit Tillinan anzulegen, dem unangefochtenen Boss der Zelle.
Über Lev wird gemunkelt, dass er gut mit der Kettensäge umgehen kann und es beim »Hühnerschlachten« für die Organisazija zur Meisterschaft gebracht hat: Wer aus der Welt verschwinden muss, wird von ihm in kleine Teile zersägt. Das ist sein Hobby, und er übt es mit Begeisterung aus.
Von Dani geht die Geschichte um, dass sein Bruder in Odessa der Polizei ein paar Namen verraten hatte und der Pachan , der Boss der städtischen Unterwelt, nach einem Killer suchte, der den Bruder erledigen sollte. Worauf Dani sagte: Keine Sorge, das erledige ich selbst.
Und den eigenen Bruder erschoss.
Dani ist ein so skrupelloser Hund, dass er sogar im Gefängnis weitermordet.
Wenn die Wachen morgens zum Wecken kommen, finden sie manches Mal einen toten Häftling – mit gebrochenem Hals oder aufgeschnittenem Bauch. Und Dani steht schon mit seinem Napf bereit, um die Morgensuppe abzufassen.
Dani ist eiskalt.
Als Lev und Dani sehen, wie der neue Häftling den alten Tillanin fertiggemacht hat, denken sie sich ihren Teil.
Inzwischen hat Tillinan mit seinem Gebrüll einen Wärter angelockt, der fragt nun, wer der Übeltäter war. Und erwartet so wenig eine Antwort, wie er erwartet, dass sich die Zellendecke öffnet und Prinzessin Anastasia auf einem Zirkustrapez herabgeschwebt kommt. Was nur logisch ist. Selbst Tillinan hält schön das Maul.
Also wendet sich der Wachmann an Dani, packt ihn beim Kragen und zerrt ihn auf den Gang, weil er davon ausgeht, dass Dani hinter jeder Schweinerei steckt, die in der Zelle passiert, und er zückt gerade den Gummiknüppel, als der Neue – ein kleiner Dieb aus Leningrad namens Valeshin – hinter ihm herbrüllt: »Ich war’s!«
»Was?«, fragt der Wachmann.
»Ich war’s!«
Das ist ungefähr das Dümmste, was dem Wachmann bisher zu Ohren gekommen ist, und das bei einer Gefängnispopulation, deren Intelligenzquotient ohnehin weit unter dem Durchschnitt liegt. Dass dieser Idiot offenbar auf seine Ganovenehre pochen will, macht den Wachmann so wütend, dass er ihn am Ledergürtel an die Zellentür hängt und so lange mit einem Stück Schlauch bearbeitet, bis er bewusstlos ist. Zur Sicherheit verpasst ihm der Wachmann noch ein paar Fausthiebe, dann bindet er ihn los und befördert ihn mit einem Tritt in die Zelle zurück, weil a) die Krankenstation sowieso nicht besetzt ist und b) Tillinans Freunde ohnehin dafür sorgen werden, dass er die nächste
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