Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
entspannt. Seine Gesichtsfarbe ist dem Rot seines Brustschmucks deutlich näher gekommen. Untypisch nahe.
«Äh, weißt du, Carsten …» Bevor er den Satz beenden kann, wird die Gartenpforte aufgestoßen und Sabine Henkelmann kommt in den Garten gestürmt. Ihre hohe Stirn ist schweißbedeckt, unter den Achseln sind dunkle Flecken. Sie sieht aus wie eine Amazone mit Körperpflegedefiziten.
«Mein Gott, Horst! Da bist du ja! Erika ist umgefallen …»
Ohne weitere Rückfragen springt Horst auf die Beine, macht einen One-Eighty aus dem Stand und verlässt mit forschem Emergency-Room-Schritt das Grundstück. Sabine folgt ihm auf dem Fuße und lässt Carsten in Gesellschaft eines nagenden Zweifels zurück.
xxxv Spring Break in Münster-Zentral
Arbeit ist das halbe Leben. Besser gesagt, war das halbe Leben, denn nach dem tragischen Wegsterben der Altersversorgung des größten Teils der europäischen Bevölkerung hat sich der Lebenszeitanteil der Arbeit auf gute fünfundsiebzig Prozent erhöht – vorausgesetzt die Gesundheit spielt mit. Carsten ist das egal, er wüsste sowieso nicht, was er sonst mit sich anfangen sollte. Hausarbeit kommt für ihn nicht infrage, der heimische Garten ist schnell gemacht und seine Dopekulturen brauchen nur ein Minimum an Pflege. Sein einziges Hobby ist Saufen mit Horst, aber auch dem sind aus gesundheitlich-überlebenstechnischen Gründen gewisse Grenzen gesetzt. Die perspektivische Erweiterung seines Lebenshorizonts, die sich aus der kurzen Bekanntschaft mit Mandy ergab, hat sich zu einem hässlichen schwarzen Fleck in seiner Erinnerung verdichtet.
Heute ist Partytime bei seinem Arbeitgeber, der alljährliche Jahreserweckungsevent mit dem schön klingenden Namen «Spring Break auf der Hohen Ward» und jeder, der an einem Überschuss an Geld und einem Mangel an Moral leidet, hat sich eingefunden, um stilvoll das Ende der kalten Jahreszeit zu begehen. Obwohl das Fest mithilfe zweier Cateringunternehmen steigt, ist alles, was auf der Gehaltsliste von Freiherr von der Hohen Ward steht, als zusätzliches Servicepersonal aktiviert worden, um den zahlreichen Gästen unnötige Wartezeiten bei der Verteilung der Getränke und Häppchen zu ersparen.
Carsten steht ein wenig ab vom Schuss im hinteren Teil des zum Park hin weit geöffneten Wintergartens und versucht, seinen Widerwillen sowohl gegen die Gäste als auch die Veranstaltung insgesamt hinter einer Maske professioneller Gelassenheit zu verstecken. Kein einfaches Unterfangen, denn das, was das Ehepaar von der Hohen Ward diesmal auf die Beine gestellt hat, lässt sich in Sachen Dekadenz durchaus mit gleich gelagerten Veranstaltungen im ausklingenden Römischen Reich vergleichen. Das gesamte Areal ist von Tausenden von Leuchtkörpern illuminiert, überall stehen Tische, die mit den allerfeinsten Spezereien bedeckt sind, hinter der leicht abfallenden Böschung, die hinunter zu einer großen, ebenen Rasenfläche führt, ist ein Tanzboden mit schimmerndem Parkett zu sehen, auf dem zu späterer Stunde zu den Klängen der Münsteraner Philharmoniker das Tanzbein geschwungen werden soll. Später Höhepunkt des Abends ist wie immer ein Feuerwerk, das in seiner Größe und Raffinesse angeblich mit ähnlichen Veranstaltungen in größeren Städten mithalten kann und soll.
Vorsichtig schielt Carsten hinüber zur nächsten Häppchenfutterstelle. Auf den Silbertabletts liegt eine Schulklasse Kanapees, die es Carsten schon seit einiger Zeit angetan haben. Die kleinen, mundgerecht geschnittenen Appetithäppchen sind mit Fleisch, Wurst, Eiern oder Käse aus der Region belegt und mit pikanten Zutaten aufwendig dekoriert, dazwischen liegen kleine Gebäckstücke aus Blätterteig, die eine wahrscheinlich leckere Fleischfüllung enthalten. Carstens besonderes Augenmerk allerdings gilt einem Quartett von Lachshäppchen in der Mitte eines kleineren Tabletts. Carsten weiß kaum noch, wie Lachs schmeckt, und würde die Erinnerung gern auffrischen. Die einzigen Fische in seinem Speiseplan sind die schuppigen Monster, die sein Mitbewohner Carl angelegentlich aus dem Wasser des ehemaligen Kanals zieht und an seine Wohngemeinschaft verteilt.
Geduldig wartet Carsten auf den richtigen Moment, denn dem Personal ist es bei Todesstrafe verboten, selbst Hand an Essen und Getränke zu legen, und zwar während der Party und auch danach. Keine Doggybags, Carepakete, Futtersäckchen, alles geht wieder zurück ans Catering und wird dort – wie auch immer –
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