Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
zweitverwertet, vielleicht aber auch einfach nur an die Schweine verfüttert, denn es gilt allgemein als unpassend, den kulinarischen Geschmack des Pöbels zu verfeinern. Wer trotzdem zum Zug kommen möchte, muss den richtigen Moment abpassen, bevor er zuschlägt, und dieser Moment wird für Carsten dann gekommen sein, wenn Freiherr von der Hohen Ward eine weitere seiner unleidlichen Reden hält und alle Anwesenden dem Futterdieb in spe den Rücken zukehren. Dieser Moment scheint kurz bevorzustehen, denn schon ist eine Truppe Sicherheitskräfte dabei, sich um das Auditorium herum aufzubauen. Beim Gedanken an die Sicherheitskräfte verzieht Carsten unmerklich das Gesicht, denn damit einher geht der Gedanke an die unzähligen bei der Visitation des Geländes zertrampelten Pflanzentriebe. Ein unnötiges Opfer, wie Carsten findet, denn es macht wenig Sinn, ein leeres Grundstück zu durchsuchen, die Gäste später aber nicht, denn leider wollen die Gäste sich nicht durchsuchen, scannen oder vom Sicherheitspersonal betatschen lassen. «Man ist schließlich wer und wer etwas ist, hat es nicht nötig, andere, die etwas sind, in die Luft zu sprengen», so das Statement eines exklusiven Gastes. Carsten ist die kausale Zwangsläufigkeit dieser Äußerung nicht nachvollziehbar, aber er wird ja auch nicht gefragt. Sowieso ist Carsten das ganze Theater egal. Lautlos wie ein Schatten gleitet er hinüber zu den Häppchen und bringt sich in Positur. Noch während sich die Gäste auf dem Freiplatz vor der Bühne einfinden, hat er zugeschlagen und drei leckere Schnittchen mit zart orangefarbenem Belag haben den Weg in einen vorsorglich bereitgehaltenen Beutel gefunden.
Gerade als er den ersten Happen im Schatten einiger blühender Sträucher in die Futterluke schieben will, hört er ein raschelndes Geräusch im Schatten vor der Mauer. Wahrscheinlich einer der unleidlichen Aufpasser, die unablässig das Grundstück durchpflügen wie ein Schwarm Wale mit Planktonappetit die Tiefsee.
Vorsichtig drückt Carsten sich an einem mächtigen Rhododendronbusch vorbei, macht ein paar schnelle Schritte in Richtung auf eine grellgelb blühende Forsythie zu, dreht sich um hundertachtzig Grad und schiebt sich vorsichtig gebückt rückwärtsgehend unter die üppigen Zweige. Noch bevor er den leisen Schrei hört, weiß Carsten, dass er auch hier nicht allein ist. Er erstarrt in der Bewegung, dann dreht er sich um. Vor ihm im Halbdunkel steht eine Frau in einem edlen dunkelgrauen Kostüm mit halblangem Rock und breiten gepolsterten Schultern. Eine glitzernde Diamantspange hält das Revers der locker auf die Hüfte fallenden Jacke zusammen, ein indigofarbenes Tuch ist um ihren Hals geschlungen und verdeckt damit gleichzeitig die untere Hälfte ihres Gesichtes. Bevor Carsten ein Wort der Entschuldigung finden kann, hebt die Frau ihren Kopf und blickt ihm in die Augen. Carsten spürt, wie sein Herz unvermittelt mehrere kraftvolle Doppelschläge produziert. Er zwinkert irritiert mit den Augen, aber es ist kein Zweifel möglich. Die Frau ist Mandy.
xxxvi Ärzte ohne Kohle
Vorsichtig drückt Horst Gerlach die rostige alte Metalltür nach innen und betritt das Foyer des Verwaltungstraktes des ehemaligen Logistikzentrums Münsterland von Paket Direkt. Obwohl es Samstagabend ist, herrscht Betrieb wie auf dem Kölner Hauptbahnhof, was kein Wunder ist, denn hier logiert die hiesige Fraktion von Life-Aid , besser bekannt unter dem Synonym «Ärzte ohne Kohle». Im Gegensatz zu Institutionen, die sich einer mehr zahlungskräftigen Klientel widmen, ist man hier der Meinung, dass Krankenstationen Twentyfourseven-Betriebe zu sein haben, da Krankheiten und andere körperliche Defekte bekanntlich keine freien Wochenenden kennen, nicht in Urlaub fahren oder Überstunden abfeiern.
Horst schlendert hinüber zur improvisierten Aufnahme, stützt sich mit den Unterarmen auf die Theke und wartet, bis die junge Frau dahinter von ihrem Monitor aufschaut.
«Ach, du bist es. Hallo, Horst. Beruflich hier?» Die Frau beginnt Daten in eine Tastatur zu hämmern.
«Was meinst du denn mit beruflich?»
«Ich meine, ob du krank bist.»
«Äh, dann privat. Ich suche Jochen.»
«Welchen Jochen? Wir haben drei.»
«Jochen Heffter.»
«Sag das doch gleich!» Sie unterbricht die Tipporgie und rollert mit ihrem Stuhl zur gegenüberliegenden Wand, die von einem voluminösen Dienstplan bedeckt ist. Nach kurzem Studium rollt sie zurück und nimmt die Tipperei wieder auf.
«Jochen hat
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