Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Dienst und ist auf Station.»
«Auf Station?»
Die Frau unterbricht ihre Arbeit erneut und mustert Horst genervt. Ihre Augen haben dunkelblaue Ränder, die garantiert nicht aufgemalt sind, um ihre Mundwinkel haben sich ein paar frühe Falten breitgemacht.
«Bist du sicher, dass alles O.K. mit dir ist?»
«Äh, alles gut. Ich denke, ich finde den Weg allein.»
Horst sieht zu, dass er Land gewinnt, bevor jemand versucht ihn einzuweisen.
Kurze Zeit später betritt Horst das zum Krankensaal umfunktionierte ehemalige Packzentrum. Mobile Wände teilen die große Fläche in kleinere Bereiche, überall stehen Betten unterschiedlichster Bauweise, die meisten davon belegt. Die Betonwände werfen die Symphonie aus Wörtern, Schnarchen, Stöhnen und Schreien ungedämpft zurück, sodass man das Gefühl hat, von einem zähen Soundbrei umgeben zu sein. Es riecht unschön.
Weitere Nachfragen sind nötig, bis Horst den Gesuchten hinter einer Wand aus Leichtbauelementen schließlich findet. Jochen steht gebeugt über einem Patienten und horcht dessen Brust mithilfe eines alten binauralen Stethoskops gewissenhaft ab. Als er Horst bemerkt, beendet er seine Arbeit, verstaut das Stethoskop in der Außentasche seines dunkelblauen Kittels und zieht dem Patienten die Decke über den Kopf.
«Das ist schon der Dritte heute. – Hallo, Horst.»
Jochen Heffter, Urologe im letzten Stadium, der aufgrund seiner spärlichen rotblonden Kopfbehaarung von seinen Freunden allseits mit dem Zusatz «der rostige Katheder» tituliert wird, wendet sich seinem Besuch zu. Auch er ist nicht mehr der Jüngste, das genaue Alter lässt sich jedoch nur schwer bestimmten, wenn man nicht weiß, zu welchem Teil der immense Arbeitsdruck an der etwas desolaten Gesamterscheinung beteiligt ist.
«Hallo, Jochen, alles im grünen Bereich?»
«Kann man so nicht sagen.»
«Wieso, was ist los?»
Jochen winkt ab.
«Nee, schon gut. Alles wie gehabt. Ich bin meinen Job als Lebensrestverwalter nur einfach leid, ständig nur Entwicklungshilfemedizin praktizieren. Richtig helfen können wir hier doch niemandem, das weißt du doch genau. Besser als mancher andere.»
«Und trotzdem werden die Leute immer älter.»
«Das liegt aber nicht an uns, sondern schlicht daran, dass die meisten zwangsweise zum gesunden Leben verdonnert sind. Nix zu fressen: kein Übergewicht, nix zu rauchen: super Lunge, kein Auto: viel Bewegung und damit ein erstklassiges Herz-Kreislauf-System, keine industrielle Nahrungsmittelproduktion: keine Zusatzstoffe in den Lebensmitteln und deshalb kaum Krebs und anderer Mist. So gesehen hast du natürlich recht.»
«Kann dir doch egal sein, du bekommst sowieso nichts für deine Arbeit.»
Jochen verzieht das Gesicht.
«Bist du gekommen, um mich zu demotivieren? – Oder gibts noch einen anderen Grund?»
«Na ja, also», Horst senkt die Stimme. «mein Kumpel Carsten – du weißt schon – ist kurz vorm Durchdrehen und beginnt schräge Fragen zu stellen. Hast du einen Vorschlag?»
«Vorschlag? Warum sollte ich? Was hat das überhaupt mit uns zu tun?»
«Was das mit uns zu tun hat? Das will ich dir gerne erklären.»
xxxvii Der Kanzler spricht
Endlich ist es soweit. Freiherr von der Hohen Ward betritt eine kleine Bühne auf der ausladenden Terrasse, hebt die Arme und macht mehrere dem Publikum zugewandte Vierteldrehungen. Schließlich gongt es dezent aus der Surround-Beschallungsanlage und mehrere Scheinwerfer beginnen ihre blassgoldenen Strahlen auf den Redner zu schütten. Langsam ersterben die Hintergrundgeräusche und machen einer erwartungsvollen Halbstille Platz. Freiherr von der Hohen Ward hebt erneut die Arme, in seinem blutroten Samtanzug, der mit zahllosen schreiend bunten Comicmotiven durchwirkt ist, macht er eine mehr als gute Figur und das scheint er auch zu wissen. Routiniert taucht er ab in Tiefen seiner gepflegten Rhetorik.
«Liebe Münsteranerinnen und Münsteraner, lassen Sie mich ganz offen sein: Als ich vor einem Jahr genau hier stand und zu Ihnen sprach, da habe ich bei aller Zuversicht durchaus auch mit gemischten Gefühlen in die Zukunft geschaut, denn unser Münsterland steckte tief in den Nachwirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Es war die schwerste Krise seit über dreißig Jahren. Doch trotz aller berechtigten Sorgen – es wurde ein gutes Jahr für Münster.
Und über eines vor allem können wir uns freuen: Noch nie hatten im Münsterland weniger Menschen mehr Vorteile als heute. Die Zahl der Vermögenden ist
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