Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
gleiche Zeit an wie ihre Kollegen vom Grabbeltisch, wenn sie überhaupt jemals richtig gehen. Allein die Vorstellung, dass er die identische Uhrzeit mit all den armen Schluckern in seiner Zeitzone teilen muss, jagt Wellen des Unmuts durch seinen massigen Körper. Andererseits, wenn alles klappt, hat er in Zukunft zumindest deutlich mehr davon, unendlich viel mehr.
Weitere Minuten tropfen dahin. Normalerweise ist Theising immer absolut pünktlich, wenn es um die Treffen des – wie er es gern nennt – inoffiziellen Dreigestirns der Gralshüter geht. Er muss innerlich grinsen. Der Prinz, das ist ganz klar er, Theising ist der Bauer, passt auch, oberschlau, wie der ist, nur Professor Hellström als Jungfrau ist ein wenig hergeholt. Aber egal. Schließlich sind sie hier in Münster, der Hochburg des restdeutschen Karnevals, da muss ein kleiner Scherz am Rande drinsitzen. Auf der heutigen, natürlich höchst geheimen Prunksitzung soll es um die strategische Ausrichtung ihrer Division gehen, wirtschaftlich, marketingtechnisch und klerikal. Der Professor ist schon eingetroffen, hockt wie immer in seinem Büro und verkuppelt Genpärchen, nur Theising fehlt noch und das ist ungewöhnlich. Hohe Ward zieht nachdenklich die Unterlippe zwischen seine Zähne. Gar nicht seine Art. Vielleicht macht er aber gerade mal wieder eine seiner seltsamen Stippvisiten unten in der Anlage, zuzutrauen wäre es ihm. Das wäre auch die Erklärung dafür, dass er nicht an sein Fon geht, denn durch den elektromagnetischen Sturm, der da unten tobt, käme nicht mal der Schuss einer Neurofunkkanone. Schließlich hält Hohe Ward es auf seinen fünf Buchstaben nicht mehr aus. Er steht auf und geht zu der deckenhoch-bodentiefen Glasfront, die eine Seite des üppigen Konferenzraums beschließt, und wirft einen Blick auf die Industriebrache vor seinen Augen. Schräg rechts von ihm ragen die Bettentürme des alten Klinikums in die Höhe, er kann förmlich spüren, wie der kalte Wind den Regen in die leeren Fensteröffnungen drückt, rechts davon – hingeduckt wie ein Restposten Plattenbauten – die ehemaligen Institute. Ein Bild der Trostlosigkeit und des Verfalls, aber das soll ja schließlich auch so sein, denn zu viel Aufgeräumtheit erzeugt Aufmerksamkeit und die schadet dem Geschäft, das sich unter der Sohle der alten Gebäude prächtig entwickelt hat. Dank Theisings unermüdlichen Investorenbeschaffungsprogrammen, wie er im Geiste hinzufügt. Zu schüchtern, um auch nur zwei Sätze am Stück vor einem aus mehr als drei Personen bestehenden Publikums zum Besten zu geben, aber genial, wenn es um das Einfangen von dicken Geschäftsanteilen geht. Theisings verklemmte Art scheint den Leuten Vertrauen einzuflößen, anders kann sich Hohe Ward die Sache nicht erklären. Dabei hat er es faustdick hinter den Ohren. So faustdick, dass Hohe Ward sich manchmal fragt, ob sein Kumpel nicht auch ihn, seinen angeblich besten Freund, über den Löffel balbiert. – Obwohl? Nein, nicht Theising, das würde er nicht tun. Hellström dagegen schon, da ist er sich sicher. Der Mann ist zwar wissenschaftlich ein superhelles Licht, in menschlicher Hinsicht aber Vollblut-Soziopath, eine Mischung aus Einstein, Frankenstein und KZ-Arzt. Wenn er an die ganzen Experimente denkt, die Hellström im Namen des Fortschritts und unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt hat, wird ihm immer noch mulmig. Sicher einer der Gründe, dem Labor unter der Erde nur so selten wie möglich einen Besuch abzustatten.
Wie lange er so unbewegt vor der Fensterreihe gestanden hat, kann er nur raten. Jedenfalls lange genug, um den Bewegungsmeldern im Raum Anlass zu geben, die Beleuchtung herunterzufahren. Er wedelt kurz mit der rechten Hand und es wird wieder Licht. Ein erneuter Blick auf die Uhr sagt ihm, dass nunmehr eine Stunde seit ihrem vereinbarten Termin vergangen ist. Verdammt, das ist nicht Theisings Art. Hohe Ward spürt, wie zwei eiskalte Händchen sich von hinten um seine Stirn legen und zudrücken. Man muss nicht gleich das Schlimmste vermuten, aber Aussitzen bringt ihn auch nicht weiter. Er greift zum Fon und wählt die Nummer drei aus seiner Favoritenliste. Wofür bezahlt er die Penner eigentlich?
lxx Hintereingang
«Ach, du liebes Lottchen! Wie sollen wir da runterkommen?»
Gute Frage. Der Zugang zur Industrieanlage unter ihnen scheint nicht für Rollstuhlfahrer ausgelegt zu sein.
«Mit dem Aufzug, du Schmock. Wie denn sonst?»
«Und? Siehst du einen?»
«Nö.»
«Es
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