Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Nassbereichs der Hölle bekommen. Vorsichtig schreitet er über eine kleine, rostige Metallbrücke, die über den Abzweig führt. Im brackigen Wasser treiben dunkle Gegenstände an ihm vorbei. Tote oder lebendige Nager oder nur Fäkalien. Vielleicht ist er gerade den Verdauungsrückständen seines opulenten Frühstücks begegnet. Ihn schaudert innerlich. Dabei ist er durchaus das eine oder andere gewohnt. Seinen Kunden auf der Streckbank passiert anwendungsbedingt schon mal ein kleines Malheur und den daraus resultierenden Geruch hat er immer als seiner Arbeit zugehörig empfunden. Wer Dreck beseitigt, macht sich auch schon mal die Hände schmutzig. Aber das hier? Das ist eindeutig des Guten zu viel. Andererseits – wann bietet sich schon mal die Chance, auf so nachhaltige Art und Weise mit einem Problem fertig zu werden? Und das Beste ist, dass alle Welt die Sprengmeister verantwortlich machen wird. Offiziell weiß er ja noch nicht einmal etwas von den Brüdern und von allem anderen auch nicht. Beherzt schreitet er voran. Das wird ein Fest, wenn die ganze ketzerische Genforscherbrut in einer einzigen Stichflamme in den Himmel gejagt wird, von wo ihre unsterblichen Seelen sofort mit eiserner Hand zurück unter die Erde gedrückt würden, wo kompetentes Personal in schwarze Ewigkeit und Leid gehüllt auf sie wartet.
Mit einem Mal kommt dem Kardinal der Geruch gar nicht mehr so entsetzlich vor.
lxxii Ruhe vor dem Sturm
Keuchend lehnt Carsten an der Wand neben dem untersten Treppenabsatz, vor seinen Augen drehen sich kleine, farbige Räder.
«Jetzt könnte ich ein Stößchen vertragen», würgt er heraus.
«Deine Alte ist am Abnibbeln und du denkst ans Bumsen. Wer ist denn hier wohl das Arschloch?»
Carsten runzelt indigniert die Stirn.
«Was? Was meinst du?» Dann fällt der Groschen. «Oh, Mann, nein. Ein Stößchen ist ein kleines Bier, nullkommaeins, so was kennt ein Kümmelhändler wie du natürlich nicht!»
«Wenn du nicht an Bumsen denkst, denkst du ans Saufen. Los, fass mal mit an.»
Vorsichtig packen sie Mandy, die wie ein schmaler Sack Zement an der Wand lehnt, unter den Armen und setzen sie zurück in den Rollstuhl. Mandy sieht so elend aus, dass keiner die Lust verspürt, den Dialog wieder aufzunehmen. Carsten zieht ein zerknülltes Taschentuch aus seiner alten Armeehose und wischt ihr vorsichtig Blut und Gewebeflüssigkeit von der Oberlippe. Erkan wendet den Kopf ab, ob aus Gründen der Diskretion oder aus Ekel lässt sich nicht sagen.
«Lass den Quatsch», murmelt er, «gleich fängst du noch an, ihr die Haare zu machen.» Er greift nach der schwarzen Sonnenbrille und schiebt die Bügel hinter seine fleischigen Ohren. «Lass jucken. Ich will hier nicht unnötig alt werden.»
Von unten betrachtet wirkt die Kuppel vor Ihnen noch monumentaler als von oben, erst jetzt bekommt man ein realistisches Gefühl von den Ausmaßen der Halle. Wer immer diese Anlage gebaut hat, er hatte jede Menge Geriebenes auf der hohen Kante liegen. Carsten hat sich noch keinen Millimeter bewegt.
«Immer mit der Ruhe, Erkan. Es gibt mindestens noch den zweiten Wachmann. Wenn nicht mehr.»
«Ich habs verstanden. Warte hier.» Er zieht sich die Hose hoch, rückt sich die Koppel zurecht und schlendert gemütlich auf einen Vorbau aus Milchglas zu, dessen Vorderfront von einer großen Luftschleuse durchbrochen ist.
«Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an!», ist das Letzte, was zu hören ist, bevor er in der Schleuse verschwindet.
Erschöpft lässt Carsten sich auf den Treppenabsatz sinken. Die Unternehmung kommt ihm zunehmend surreal vor, das Ziel immer unerreichbarer. Was hatte er eigentlich gedacht, was er hier vorfindet. Eine Facharztpraxis mit einem plüschigen Wartezimmer, eine Wellness-Oase für Leukämiepatienten im letzten Stadium, den Gott der Barmherzigkeit? Auf der anderen Seite, was hätte er tun sollen, tun können? Sich zurücklehnen und Mandy beim Sterben zusehen? Bis morgen dann, Schatz, vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist so gemein. Jahrelang hat er Zeit verschwendet, abgewartet, Hopfentee getrunken, hat zugesehen, wie sein Konterfei im Badezimmerspiegel immer kantiger wurde, faltiger, die Haut gröber, die Bartstoppeln erst grau, dann weiß, die Haare dünner, Mutterflecken, Vaterflecken, eine unablässige Abfolge von körperlichen Demütigungen. Ein weiterer unsäglicher Dorian Gray. Und dann Mandy. Alle Gebrechen sind vergessen, die Sonne scheint plötzlich mit einem ungewohnt warmen Strahl
Weitere Kostenlose Bücher