Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
gereizt, denn der Aufzug oder Fahrstuhl oder was auch immer ist bereits seit geraumer Zeit auf seinem Weg bergab. Dabei macht er Geräusche wie ein Sägewerk für Pockholzbäume. Sehr unangenehm, sehr laut, sehr nervenzerrend.
«Vielleicht kommen wir auf unserem Weg zum Mittelpunkt der Erde ja auch an der Hölle vorbei.»
«Was willst du in der Hölle? Da kommst du noch früh genug hin.»
«Ein paar Freunde besuchen vielleicht, schon mal ein Einzelzimmer reservieren, was weiß ich.»
«Du brauchst kein Einzelzimmer. Du kommst in den Gemeinschaftskessel für Kinder- und Familienschänder. Oder die stecken dich direkt in die Mikrowelle, und zwar mit deinem unseligen Zipfel voran.»
Bevor das Gespräch fies werden kann, flachen die Geräusche zu einem lauten, hohen Brummen ab, dann öffnet sich die Tür auf der anderen Seite. Vor Ihnen liegt eine weitere Halle, flacher diesmal, aber dafür so groß wie ein Fußballfeld. Dunstschwaden ziehen über den Boden sowie unter der Decke her und verwandeln die vereinzelten Leuchtkörper in milchige Inseln aus Licht. Der größte Teil der Halle wird von einer riesigen gebogenen Röhre ausgefüllt, die auf einem ausgeklügelten Fundament von Beton und Stahl ruht. Die Röhre scheint Teil eines größeren Ganzen zu sein, denn ihre Enden verschwinden in riesigen Tunnelöffnungen am hinteren Ende. Alle zehn Meter ragen klotzige Spulen aus armdickem Kabel radial von der Röhre hoch, Funken blitzen, Ozongeruch liegt in der Luft. Obwohl es nicht kalt ist, sind die Verbindungsstücke zwischen den einzelnen Segmenten mit Schichten aus meergrünem Eis überkrustet. Es brummt und zischt wie im Kesselraum der Titanic kurz vor ihrem ersten und gleichzeitig letzten Tauchgang. Alle zwei Minuten schwellen die Geräusche auf die Lautstärke eines durchfahrenden Hochgeschwindigkeitszuges an, um kurz darauf wieder zurück auf das normale Niveau zu fallen. Auf einer abgesperrten Lagerfläche links von ihnen stehen große Rohrsegmente, die innen mit mächtigen Platten aus farbigem Glas gepflastert sind. Vorsichtig nähert sich Carsten einem geschlossenen Geländer, das einen Teil des Hallenbodens absperrt, und zuckt unwillkürlich zurück. Dahinter geht es gute dreißig Meter abwärts. Die untere Ebene ist vollgestellt mit Maschinen, Aggregaten, Tanks und anderen undefinierbaren Teilen einer vergessenen Industriekultur. Auch hier von Ruhe keine Spur. Die Geräte rappeln, humpeln und schnurren unablässig vor sich hin, farbige Lichter blinken auf zahllosen Schalttafeln, Dutzende von Monitoren zeigen Zahlenkolonnen, fraktale Gebilde, Skalen und Diagramme, die andere Hälfte von ihnen ist blind. Die ganze Chose ist durchzogen von einem Kreislaufsystem von Rohren, Schächten und Kabeln, zu Bäumen gebunden, einzeln und zu zweien oder mehreren zusammengefasst. Aus einigen Kesseln ist Flüssigkeit ausgetreten und zu bizarren Gebilden zusammengefroren, eine Mini-Moräne aus dunkelgrünem Eis hat sich einen Gang entlang geschoben und blockiert den Zugang zu einer Treppe, die weiter nach unten führt. Das stimmige Farbkonzept des Restklinikums musste draußen bleiben. Über Farben hat hier keiner nachgedacht, es geht um Funktion, nicht um Ästhetik. In der Mitte der Anlage steht eine gewaltige Kuppel aus kupferfarbenem Glas, die mit konzentrischen Ringen aus einem grell goldglänzenden Material umfangen ist, darüber wabert ein wirres Geflecht aus glänzenden Flexoschläuchen, die sich kreuzen, verbinden und in der Kuppel verschwinden, Leuchtkörper innerhalb der Konstruktion rufen den Eindruck hervor, als würde es sich gleich dem Haupt einer riesigen Medusa um ein lebendes Gebilde handeln, den Kopf eines hässlichen Königs der Riesen. Das Ganze ist monströs und schön zugleich. Um die Kuppel selbst sind mehrere, hell erleuchtete Kuben aufgeschichtet, die bis zu einer Höhe von acht Metern aufragen und Kontrollräume und Büros zu enthalten scheinen – oder Labore. Dazwischen ist ein Geflecht aus gläsernen Durchgängen, gehalten von einem wirren Wald von T-Trägern und bizarren eckigen Bögen. In allen Zwischenräumen glitzern Bäche aus in der Bewegung erstarrten Flüssigkeiten, ein schockgefrosteter Wasserfall. Es ist kein Zweifel möglich. Vor ihnen liegt die Eisfabrik.
lxix Warten auf den dritten Mann
Ungeduldig wirft Freiherr von der Hohen Ward einen Blick auf seine Patek Philippe Nautilus Titanum. Der dritte innerhalb der letzten fünf Minuten. Das ist die Krux mit teuren Uhren, sie zeigen die
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