Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
zwischen den Schienen liegenden, beweglichen Bodenplatte. Über Mandys Kopf liegt eine grob gewirkte Mütze aus schimmerndem Gewebe. Doktor zu Hülshoff hat eine Lidsperre in Mandys linkes Auge gesetzt und das Okular einer beweglichen Kamera darüber gestülpt. Er zieht ein mobiles Terminal vor den Behandlungsstuhl und beginnt zu schreiben. Mehrere Geräte erwachen summend zum Leben, aus dem Deckenbereich klappt ein Monitor mit einer Diagonale von mindestens 60 Zoll. Zunächst erscheint ein chinesisches Schriftzeichen in der Mitte, morpht zu einem fauchenden Drachen und verschwindet. Kurz darauf klappen mehrere Fenster auf, die unterschiedliche Datenreihen zeigen. Die schematische Darstellung eines Gehirns in schreienden Farben blinkt hektisch. Doktor zu Hülshoff geht hinüber zum Okular über Mandys Auge und verhakt einen Vorsatzring mit der Lidsperre. Das bunte Gehirn hört auf zu blinken. Eine weitere Befehlsfolge blendet das Licht über dem Behandlungsmöbel auf, ein kräftiger Elektromotor dreht die Liegefläche um die Längsachse, sodass Mandys nackter Rücken zwischen den Streben der halb offenen Liegefläche nach oben zeigt. Doktor zu Hülshoff wendet sich ab und geht hinüber zu einer türkisfarbenen Arbeitsfläche mit mehreren nahtlos integrierten Becken unterschiedlicher Größe, nimmt Kopfbedeckung und Mundschutz aus den Spendern und legt sie routiniert an. Er wäscht sich die Hände, bevor er sich an Carsten wendet.
«Herr Meyer! Hätten Sie mal kurz die Freundlichkeit?»
Carsten zwinkert überrascht mit den Lidern.
«Freundlichkeit? Für was?»
«Mir in die Handschuhe zu helfen, natürlich.»
Bevor Carsten zufassen kann, kommt der nächste Rüffel.
«Na na, doch nicht so. Als Erstes nehmen Sie sich selbst Handschuhe aus dem sterilen Spender dort und ziehen sie an, und zwar ohne den vorderen Fingerbereich zu berühren. Dann helfen Sie mir in meine Handschuhe. – Wenn es Ihnen zu viel Mühe macht, könnte ich natürlich auch eine Schwester rufen.»
«Nein, schon gut. Ich …»
«Und Mundschutz und Baretthaube nicht vergessen. Wann waren Sie eigentlich das letzte Mal beim Coiffeur? – Wenn Sie noch wissen, was das ist.»
«Mal Supermaus, mal Mickymaus», denkt Carsten und beschließt, den gehässigen Gesichtsausdruck, der mit der Bemerkung einhergeht, einfach auszublenden. Ungeschickt schiebt er seinen fettigen Zopf unter die Einmalhaube, dann packt er mit spitzen Fingern einen Satz Latexhandschuhe in XL und zieht sie vorsichtig an. Nicht einfach, wenn man nicht zupacken darf. Doktor zu Hülshoff ist mit Größe L zufrieden und damit scheinen die Vorbereitungen zur Behandlung abgeschlossen. Ohne Carsten weitere Aufmerksamkeit zu schenken, desinfiziert er eine üppige Fläche von Mandys Rücken in Höhe des Lendenwirbelsäulenbereichs und nimmt eine äußerst unerfreulich wirkende massive Injektionsnadel mit einem elektronischen Schloss auf der anderen Seite, die in blaues, halbtransparentes Plastik eingeschweißt ist, aus der obersten Schublade eines Rollis. Carsten ist mit einem Mal hellwach.
«Moment mal! Was soll das denn werden?»
Doktor zu Hülshoff hält es nicht für nötig, Carsten anzusehen.
«Ich nehme eine Lumbalpunktion vor. Was haben Sie denn gedacht?»
«Lumbalpunktion? Wozu? Was ist das?»
«Wollen Sie nun, dass ich versuche, dieser Frau zu helfen oder nicht?»
«Das sieht mir nicht wie ein Hilfsmittel aus. Eher wie ein Mordinstrument!» Carstens Stimme ist laut geworden. Der Mann in Weiß denkt an weitere mögliche körperliche Beeinträchtigungen und dreht bei.
«Nur die Ruhe, Herr Meyer. Um etwas zu erreichen, muss ich zunächst zwei Dinge tun. Erstens: Den genetischen Code der Person knacken, wobei es nur um einen bestimmten, etwa zweiprozentigen Anteil geht. Immer noch mehr als genug. Zweitens: Ich muss den Grad der Vorschädigung bestimmen. Für all das brauche ich mehrere Gewebeproben. Mithilfe der Lumbalpunktion wird dem Rückenmark die sogenannte Liquor cerebrospinalis beziehungsweise Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit entnommen. Das geschieht über einen Einstich in den Rückenmarkskanal in Höhe des lumbalen Wirbelbereichs. Die entnommene Probe wird über eine sterile Organikbrücke direkt in unseren Gensequenzierer eingespeist. Weitere Proben werden wenn nötig mittels Biopsien gewonnen. Aber das kommt später.»
Mit gemischten Gefühlen wird Carsten Zeuge, wie die hässliche Spitze tief in Mandys Rücken versenkt wird. Ob sie es merkt, ist nicht ersichtlich.
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