Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Dann wird die Nadel fixiert und mittels einer mikroelektronischen Kupplung mit einem fingerdicken Kabel verbunden, das neben anderen direkt aus dem Behandlungstisch kommt. Doktor zu Hülshoff beginnt erneut auf die Tastatur einzuhämmern und ein großes Datenfenster auf dem Monitor vor ihnen wird aktiv. Zahlenkolonnen, durchsetzt von alphanumerischen Befehlen wechseln sich mit chinesischen Schriftzeichen ab. In einem anderen Fenster bilden sich farbige Datenschnüre, die unablässig von rechts nach links ziehen wie die Kurven der Vitalfunktionen auf einer Intensivstation.
«Wie lange wird das dauern?»
Doktor zu Hülshoff hat die Einmalhandschuhe ausgezogen und in einen kleinen Treteimer geworfen. Sein Blick verfolgt die Daten auf dem Monitor.
«Schwer zu sagen. Kommt darauf an, wie viel Referenzmaterial wir schon in unserer Datenbank haben. Wenigstens zwei Stunden, längstens zwei Tage.»
«Zwei Tage?»
«Was haben Sie denn gedacht, was wir hier tun. Sie hätten sich ein Pausenbrot mitbringen sollen.»
Carsten starrt sein Gegenüber entgeistert an. Zwei Tage. Unter keinen Umständen wird es ihnen gelingen, so lange unentdeckt zu bleiben. Unwillkürlich tastet er nach seinem Gewehr.
Doktor zu Hülshoff scheint Gedanken lesen zu können. Seine Stimme hat wieder einen nervösen Unterton bekommen.
«Machen Sie jetzt bloß keinen Fehler. Ich kann mir nicht vorstellen, dass …»
Bevor der Wissenschaftler das Thema ausführen kann, ertönt eine Abfolge von Tönen, die wie die Anfangssequenz der alten chinesischen Weise Einzugsmarsch des Kaisers in den Tempel klingt. Carsten und sein Gegenüber fahren herum.
Ein weiteres Fenster in leuchtendem Orangerot hat sich auf dem Panel geöffnet. Unter einigen unbekannten Symbolen, steht groß, fett und weiß: Data Capture already DONE.
«Mein Gott, was soll das denn jetzt schon wieder heißen?»
«Oh, naja, die kompletten genetischen Daten Ihrer … Frau sind bereits im System hinterlegt. Ich würde sagen, dass sie Ihnen etwas verschwiegen hat. – Wann – sagten Sie – haben Sie geheiratet ?»
lxxx Jagged little Pills
Als es in den zwanziger und dreißiger Jahren des neuen Jahrtausends zum großen Räumungsverkauf der deutschen Pharmaindustrie kam und innerhalb eines Jahres an die einhundertzwanzigtausend Beschäftigte – von der etwa gleich großen Zahl von Dienstleistern und Zulieferern ganz zu schweigen – ihren Schreibtisch räumen mussten, war der Grund dafür nicht – wie man hätte denken können – die nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit oder eine ungeschickte Preisgestaltung, sondern die schlichte Tatsache, dass sich nunmehr auch hierzulande kaum noch einer ein Medikament leisten konnte, zu welchem Preis auch immer. Von den wenigen Reichen und deren unverminderter Kaufkraft konnte eine Industrie in dieser Größenordnung jedoch nicht überleben.
Dabei hatte es jahrzehntelang wunderbar geklappt. Obwohl eine stattliche Truppe von wirtschaftsfeindlichen Nörglern nicht zu behaupten müde wurde, dass deutsche Pharmaunternehmen zulasten von Patienten Profitinteressen verfolgen, Nebenwirkungen von Medikamenten verschweigen, klinische Forschung durch anonyme Drittmittelfinanzierung beeinflussen und Politiker, Journalisten, Ärzte und Apotheker mit kleinen oder größeren, offiziellen oder nichtoffiziellen Zuwendungen mundtot machen, konnten viele unangenehme Dinge wie zum Beispiel die Einführung von preiswerteren Generika in der Europäischen Union, über viele Jahre verzögert oder gar blockiert werden – nicht zuletzt, weil die meisten Pharmaunternehmen damals doppelt so viel Geld für Marketing (im weiteren Sinn) ausgaben als für die Forschung.
Während also in unseren Landen der leidenschaftliche Kampf um die Zulassung scheininnovativer Medikamente gegen alle möglichen Zivilisationskrankheiten tobte, waren die Menschen in der Dritten und Vierten Welt die wirklichen Opfer dieses Krieges. Schon die Basisversorgung mit den gängigen Grundarzneimitteln – von der systematischen Vernachlässigung der Entwicklung von Medikamenten für die nur dort ansässigen Krankheiten ganz zu schweigen – scheiterte an der Hochpreispolitik der Konzerne. Schon Anfang dieses Jahrtausends hatten mehr als fünfundachtzig Prozent der Menschen weltweit keinen oder keinen ausreichenden Zugang zu Medikamenten, während die restlichen fünfzehn Prozent über neun Zehntel aller Medikamente konsumierten, Tendenz stark steigend. So wurden wichtige Nachwuchsmärkte
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