Die Springflut: Roman (German Edition)
gewesen. Und wie er duftete. Es war kein Parfum, sondern etwas anderes, was sie nicht kannte. Gerade betrat er mit einem kleinen Silbertablett, auf dem eine Teekanne und Tassen standen, den Raum.
Olivia betrachtete das Zimmer, in dem sie saß, ein sehr schönes Zimmer. Weiß gestrichen, luftig möbliert, mit ein paar hübschen Lithografien an einer Wand, einem dünnen, matten Stofftuch an einer anderen Wand, keinem Fernseher, einem sanft abgetretenen Holzfußboden. Sie fragte sich, ob Abbas eventuell ein bisschen pedantisch war.
Das war er, in manchen Dingen.
Die anderen Dinge kannten nur sehr wenige Menschen.
Olivia musterte Abbas. Er stand vor einem flachen, sorgsam geordneten Bücherregal voller sehr dünner Bücher. Sein weißes, kurzärmliges Hemd hing locker über gut geschnittene Chinos herab. Wo hat er das Messer?, fragte Olivia sich. Laut Stilton trug er es doch immer bei sich. Immer. Ihre Augen studierten seinen Körper. Er hat ja kaum etwas an. Hat er es etwa abgelegt?
»Sie haben neugierige Augen.«
Abbas fuhr mit einer kleinen Tasse Tee in der Hand herum, und Olivia fühlte sich ertappt und wollte nicht, dass Abbas ihren Blick falsch verstand.
»Stilton sagt, dass Sie immer ein Messer bei sich tragen.«
Abbas reagierte kaum merklich, aber dennoch deutlich und gereizt. Warum hatte Stilton Olivia von seinem Messer erzählt? Das hätte er sich sparen können. Das Messer war ein Teil von Abbas’ verborgenem Charakter, es gehörte nicht in die Öffentlichkeit. Nicht einmal diese junge Frau sollte Zugang zu dieser Information haben.
»Stilton redet manchmal ein bisschen viel.«
»Aber stimmt es? Tragen Sie es gerade bei sich?«
»Nein. Zucker?«
»Ein bisschen.«
Abbas drehte sich wieder um, und Olivia ließ sich in den flachen Sessel zurücksinken. Im selben Moment knallte es in dem Holzrahmen neben ihr – ein langes, dünnes und schwarzes Messer zitterte wenige Zentimeter von ihrer Schulter entfernt im Holz. Olivia schreckte zurück und starrte Abbas an, der mit einer Tasse Tee in der Hand auf sie zukam.
»Das ist kein Messer, das ist ein Black Circus, 260 Gramm leicht, ohne Verzierungen. Wollen wir uns ein bisschen über diesen Ufermord unterhalten?«
»Klar.«
Olivia nahm ihre Tasse an und begann, ein bisschen zu schnell und erregt zu erzählen. Das Messer steckte neben ihr noch im Holz, und in ihrem Hinterkopf meldete sich hartnäckig die Frage: Wo zum Teufel hatte er es gehabt?
*
Ove Gardman saß in der Küche seines Elternhauses auf Nordkoster und schaute aus dem Fenster. Gerade hatte er mit einer Polizistin in Stockholm telefoniert und ihr alles erzählt, was er über Nils Wendt und Mal Pais wusste. Die Ravioli aus der Dose hatte er vertilgt. Sie waren kein kulinarischer Höhepunkt gewesen, hatten jedoch ihre Aufgabe erfüllt und seinen Hunger gestillt. Morgen würde er bessere Lebensmittel einkaufen gehen.
Er sah sich in seinem alten Elternhaus um.
Er war zu einem kurzen Zwischenstopp in seiner Zweizimmerwohnung in Göteborg gewesen, ehe er nach Strömstad gefahren war, seinen Vater im Altersheim besucht hatte und anschließend die Fähre nach Hause genommen hatte. Nach Nordkoster. Sein Zuhause, weil er hier hingehörte.
So war es einfach.
Mittlerweile lebten seine Eltern nicht mehr in dem Haus, was ihn etwas wehmütig stimmte. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben, und sein Vater hatte kürzlich einen Gehirnschlag erlitten. Seither war seine rechte Körperhälfte teilweise gelähmt. Ein trauriges Handicap für einen alten, wettergegerbten Hummerfischer, der mit seinem kraftstrotzenden Körper ein Leben lang dem Meer getrotzt hatte.
Ove seufzte, stand vom Küchentisch auf, stellte den Teller ins Spülbecken und dachte an Costa Rica. Es war eine fantastische Reise gewesen, lehrreich und eigenartig.
Noch eigenartiger war es dann geworden, als er nach Hause gekommen war und diese Olivia Rönning angerufen hatte. Dan Nilsson war ermordet worden, ein verschwundener Geschäftsmann, der in Wahrheit Nils Wendt hieß und unmittelbar nach ihrer Begegnung in Mal Pais nach Nordkoster gereist und kurz darauf getötet worden war. Was hatte er auf der Insel gewollt? Merkwürdig. Unheimlich. Gab es einen Zusammenhang zu dem, was er dem Mann über die Frau am Ufer erzählt hatte?
Er ging zur Haustür und verriegelte sie, was er sonst nie tat. Auf Nordkoster war das eigentlich nicht nötig, aber jetzt tat er es trotzdem. Danach ging er zu seinem alten Kinderzimmer, stellte sich in den
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