Die Springflut: Roman (German Edition)
Rotwein bezeichnete, redete Olivia deshalb ein bisschen mehr, als sie eigentlich geplant hatte. Ob es an der Umgebung, dem Wein oder auch nur an Mårten lag, wusste sie nicht, aber sie sprach jedenfalls sehr offen über sich, über Arne und wie es war, seinen Vater zu verlieren und bei seinem Tod nicht bei ihm zu sein. Über ihr ständiges schlechtes Gewissen deshalb.
»Meine Mutter glaubt, dass ich Polizistin werden will, um mein schlechtes Gewissen zu betäuben«, sagte sie.
»Das glaube ich nicht.«
Mårten hatte ihr lange und schweigend gelauscht. Er war ein guter Zuhörer. Viele Jahre mit schwierigen Menschen hatten ihm ein gutes Ohr für emotionale Zustände verliehen und sein Einfühlungsvermögen geschult.
»Warum glauben Sie das nicht?«
»Wir tun nur selten Dinge, um einen Schuldkomplex zu befriedigen, bilden uns aber häufig ein, es wäre so. Oder schieben es darauf, weil wir nicht wissen, warum wir unsere Entscheidungen treffen.«
»Und warum möchte ich Polizistin werden?«
»Vielleicht, weil Ihr Vater einer war, aber nicht, weil er starb und sie nicht bei ihm waren. Das ist schon ein Unterschied. Bei dem einen geht es um Erbe und Beeinflussung und bei dem anderen um Schuld. Ich glaube nicht an Schuld.«
Ich eigentlich auch nicht, dachte Olivia. Das tat nur ihre Mutter.
»Und, haben Sie sich Gedanken über Tom gemacht?«
Mårten wechselte das Thema, weil er das Gefühl hatte, das könnte Olivia guttun.
»Warum fragen Sie mich das?«
»Ist das nicht der Grund, warum Sie hergekommen sind?«
An diesem Punkt ihres Gesprächs fragte Olivia sich allmählich, ob Mårten eine Art Medium war. Ob sie in die Hände eines paranormalen Phänomens geraten war. Jedenfalls hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Stimmt, ich habe ziemlich viel über ihn nachgedacht, und es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht begreife.«
»Wie er zu einem Penner geworden ist?«
»Einem Obdachlosen.«
»Semantik«, entgegnete Mårten lächelnd.
»Wie auch immer, er war Kriminalkommissar, und wenn mich nicht alles täuscht, ein verdammt guter, und muss doch ein gut funktionierendes soziales Netz gehabt haben, nicht zuletzt Ihre Familie, und dann endet er als Obdachloser. Ohne drogensüchtig oder etwas anderes zu sein.«
»Was ist etwas anderes?«
»Das weiß ich nicht, aber es muss doch ein unglaublich großer Schritt von dem Menschen gewesen sein, der er früher war, zu dem, der er heute ist.«
»Ja und nein. Auf manchen Ebenen ist er heute durchaus noch der Mensch, der er einmal war, auf anderen nicht.«
»Lag es an seiner Scheidung?«
»Sie hat sicher dazu beigetragen, aber zu der Zeit driftete er ohnehin schon ab.«
Mårten nippte an seinem Weinglas. Er dachte kurz darüber nach, wie offen er sein sollte. Er wollte vermeiden, Tom auf eine falsche Art oder auf eine, die falsch verstanden werden könnte, bloßzustellen.
Also entschied er sich für einen Mittelweg.
»Tom kam an einen Punkt, an dem er sich fallen ließ. Es gibt einen psychologischen Fachbegriff dafür, der uns hier nicht zu interessieren braucht, aber ganz konkret war er in einer Lage, in der er sich nicht mehr festklammern wollte.«
»Woran?«
»An dem, was wir die Normalität nennen.«
»Und warum wollte er das nicht?«
»Aus mehreren Gründen, wegen seiner psychischen Probleme, seiner Scheidung und …«
»Er hat psychische Probleme?«
»Er hatte Psychosen. Ob er die heute noch hat, weiß ich nicht. Als ihr zu uns gekommen seid, hatte ich ihn seit etwa vier Jahren nicht mehr gesehen.«
»Warum hat er Psychosen bekommen?«
»Psychosen können durch viele Dinge ausgelöst werden. Die Menschen sind mehr oder weniger verletzlich, und wenn man sehr verletzlich ist, reicht manchmal schon langanhaltender Stress aus. Eine Überanstrengung, oder es passiert akut etwas, was zum Auslöser wird.«
»Ist bei ihm etwas passiert?«
»Ja.«
»Was?«
»Das soll er Ihnen selbst erzählen, wenn und wann er möchte.«
»Okay, aber was haben Sie und Ihre Frau getan? Konnten Sie nichts für ihn tun?«
»Ich denke, wir haben getan, was wir konnten. Immer wieder mit ihm geredet, als er zu menschlichen Kontakten noch fähig war, und ihm angeboten, hier zu wohnen, als er aus seiner Wohnung geworfen wurde, aber dann ist er immer weiter abgedriftet, nicht mehr wie verabredet aufgetaucht, nicht erreichbar gewesen, bis er am Ende mehr oder weniger verschwunden war. Wir wussten, dass Tom ein Mensch war, der sich kaum umstimmen ließ, sobald er sich einmal
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