Die Springflut: Roman (German Edition)
nicht so intensiv war wie ihre frühere zu Stilton, und das verunsicherte ihn möglicherweise ein wenig, aber dass er eifersüchtig war, glaubte sie eigentlich nicht. Dazu war ihre Beziehung zu stabil. Aber er fragte sich eben.
»Was heißt privat?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, antwortete sie und spürte gleichzeitig, dass sie zu defensiv war. Das war dumm von ihr. Sie hatte überhaupt keinen Grund, sich zu verteidigen. Oder etwa doch? Hatte die Begegnung mit Stilton sie in einer Weise berührt, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war? Seine erbärmliche körperliche Verfassung? Seine Konzentration? Seine völlige Gleichgültigkeit der Situation gegenüber, sich der Exfrau vor deren Haus zu stellen? Schon möglich, aber das gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die ihr Mann würde nachvollziehen können.
»Tord, es war Toms Idee, mich aufzusuchen. Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen, und jetzt arbeitet er an einer Sache, die mich nichts angeht, aber ich musste ihn doch wenigstens anhören, oder?«
»Warum?«
»Er ist wieder gefahren.«
»Okay. Nein, schon gut, war ja nur eine Frage, du bist gekommen, und dann seid ihr zusammen weggegangen. Wollen wir Bratkartoffeln machen?«
*
Stilton saß in Linköping alleine im Bahnhofscafé, in einer Umgebung, in der er sich einigermaßen wohlfühlte. Eine Tasse Kaffee, keine Blicke, man kam und trank und ging wieder. Er dachte an Marianne und an sich selbst. Was hatte er erwartet? Ihr letzter Kontakt lag sechs Jahre zurück. Sechs Jahre eines unaufhaltsamen Absturzes auf allen Ebenen. Sie hatte sich in diesen sechs Jahren überhaupt nicht verändert, zumindest im Halbdunkel der Reihenhaussiedlung nicht. Für manche geht das Leben weiter, dachte er, bei anderen verlangsamt es sich, und bei wieder anderen kommt es völlig zum Erliegen. In seins kam allmählich wieder Bewegung. Langsam, stockend, aber es ging eher vorwärts als abwärts, was schon mal ein Fortschritt war.
Er hoffte wirklich, dass Marianne behütete, was sie besaß, was immer das sein mochte. Das hatte sie verdient. In wirklich gesunden Momenten wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr sein Verhalten und seine zunehmenden psychischen Probleme sie in ihrer letzten gemeinsamen Zeit gequält haben mussten. Seine heftigen Gefühlsschwankungen hatten ausgehöhlt, was sie gemeinsam aufgebaut hatten, und am Ende war dann alles zusammengebrochen.
Und daraufhin waren diese gesunden Momente nicht mehr ganz so gesund.
Stilton stand auf. Er musste sich bewegen. Er spürte, wie der Druck in seiner Brust in seine Arme ausstrahlte, und seine Stesolidtabletten hatte er im Wohnwagen gelassen. Dann klingelte sein Handy.
»Jelle.«
»Hallo Tom, ich bin’s, Marianne.«
Sie sprach ziemlich leise.
»Woher hast du meine Nummer?«, fragte Stilton.
»Olivia Rönning findet man im Gegensatz zu dir über die Telefonauskunft, ich habe ihr eine SMS geschickt und um deine Nummer gebeten. Eilt die Sache mit der Haarspange?«
»Ja.«
»Dann komm vorbei und gib sie mir.«
»Okay. Warum hast du es dir anders überlegt?«
Marianne unterbrach die Verbindung.
*
Olivia fragte sich, warum Marianne Boglund Stiltons Handynummer haben wollte. Die beiden hatten doch gar nichts mehr miteinander zu tun? Oder interessierte er sich jetzt etwa doch für die Haarspange? Im Wohnwagen hatte er jedenfalls darum gebeten, sie behalten zu dürfen. Mein Gott, dachte sie. Immerhin hat er sich etliche Jahre mit dem Fall beschäftigt, ohne ihn aufklären zu können. Natürlich interessiert ihn die Spange. Aber würde er sich deshalb tatsächlich mit seiner Exfrau in Verbindung setzen? Sie erinnerte sich an ihre Begegnung mit Marianne Boglund und wie kühl und distanziert die Frau reagiert hatte, als Olivia sie nach Stilton gefragt hatte. Sie war fast abweisend gewesen. Und nun hatte sie um seine Nummer gebeten. Warum haben sie sich scheiden lassen?, dachte sie. Hatte das auch etwas mit dem Ufermord zu tun?
Wahrscheinlich waren es diese Grübeleien, die sie schließlich in den Bus zu der alten Holzvilla der Olsäters steigen ließen. Sie wusste instinktiv, dass es da draußen viele Antworten auf ihre Fragen gab. Außerdem empfand sie etwas eher Undefinierbares, was mit dem Haus selbst und seiner Atmosphäre zusammenhing und wonach sie sich fast ein wenig sehnte, ohne genau zu wissen, warum.
Mårten Olsäter hielt sich in seinem Musikzimmer auf, das für ihn Höhle und Versteck war. Er liebte seine hemmungslose Familie
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