Die Springflut: Roman (German Edition)
für etwas entschieden hatte, also ließen wir ihn ziehen.«
»Sie ließen ihn ziehen?«
»Sie können einen Menschen nicht festhalten, der nicht da ist.«
»Aber war das nicht furchtbar?«
»Es war grauenvoll, vor allem für Mette, sie hat jahrelang darunter gelitten und leidet sicher immer noch, aber nach Ihrem gemeinsamen Besuch hat sich etwas entkrampft, sie ist wieder an ihn herangekommen, das war unglaublich … intensiv. Für sie und für mich.«
Mårten füllte die Weingläser, nippte an seinem und lächelte. Olivia sah ihn an und wusste, in welche Richtung sie das Gespräch lenken wollte.
»Wie geht es Kerouac?«, erkundigte sie sich.
»Gut! Na ja, da ist natürlich die Sache mit seinen Beinen, aber für eine Spinne kann man ja schlecht einen Rollator besorgen, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Haben Sie Haustiere?«
Darauf hatte Olivia hinausgewollt. Darüber wollte sie mit jemandem sprechen, der ihr nicht allzu nahestand, ihr in diesem Augenblick aber dennoch näher stand als jeder andere.
»Ich hatte einen Kater, den ich totgefahren habe«, erklärte sie, um das Schmerzhafteste sofort gesagt zu haben.
»Sie haben ihn überfahren?«
»Nein.«
Und dann erzählte Olivia, so offen sie dazu in der Lage war, von dem Moment an, in dem sie das offene Fenster gesehen hatte, über den Augenblick, in dem sie den Zündschlüssel gedreht hatte, bis zum Anheben der Motorhaube.
Danach brach sie in Tränen aus.
Mårten ließ sie weinen. Er begriff, dass dies eine Trauer war, die sie in sich bewahren würde, um sich ihr von Zeit zu Zeit hinzugeben. Eine Trauer, die niemals ganz verschwinden würde. Nun hatte Olivia sie in Worte gefasst, und das war ein Teil des Heilungsprozesses gewesen. Er strich über ihre dunklen Haare und reichte ihr eine Stoffserviette. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Danke.«
Dann wurde die Tür aufgerissen.
»Hallo!! Hallo!!«
Jolene stürzte ins Zimmer und umarmte Olivia über den Tisch hinweg. Es war ihre erste Begegnung, und Olivia war ein wenig überrumpelt. Als Nächstes trat Mette ein, und Mårten schenkte ihr rasch ein Glas Wein ein.
»Ich will dich zeichnen!«, sagte Jolene zu Olivia.
»Mich?«
»Nur dich!«
Jolene hatte bereits den Block aus einem Regal geholt und war vor Olivia auf die Knie gegangen, die rasch noch einmal ihre Tränen abwischte und versuchte, natürlich auszusehen.
Dann klingelte ihr Handy. Es war Stilton.
»Marianne macht es«, sagte er.
»Sie führt eine DNA -Analyse durch?«
»Ja, genau.«
»Nimm das weg!«, sagte Jolene und zeigte auf das Handy.
Mårten beugte sich zu Jolene hinunter und flüsterte ihr etwas zu, während sie sich über ihrem Block zusammenkauerte. Olivia stand auf und entfernte sich ein paar Schritte.
»Und wann macht sie die Analyse?!«
»Sie ist schon dabei«, antwortete Stilton.
»Aber wie hat sie … Sind Sie bei ihr gewesen? In Linköping?«
»Ja.«
Olivia hätte ihn am liebsten umarmt.
»Danke«, war alles, was sie herausbekam. Olivia drehte sich um und merkte, dass Mette sie ansah.
»War das Tom?«
»Ja.«
Olivia erzählte schnell und leicht erregt von der Haarspange, dem DNA -Abgleich und der möglichen Bedeutung für den Ufermord und wunderte sich ein wenig, dass Mette nur wenig Interesse zeigte.
»Ist das nicht interessant?«, sagte Olivia.
»Für ihn schon.«
»Für Stilton?«
»Ja. Und es ist gut, dass er sich mit etwas beschäftigt.«
»Aber für Sie ist es nicht interessant?«
»Im Moment nicht.«
»Warum nicht.«
»Ich bin vollauf damit beschäftigt, den Mord an Nils Wendt aufzuklären. Er ist gerade erst verübt worden, der andere Mord liegt fast vierundzwanzig Jahre zurück. Das ist der eine Grund. Der andere lautet, dass es Toms Fall ist.«
Mette erhob ihr Weinglas.
»Und das wird er auch bleiben.«
Auf dem Heimweg gingen Olivia ihre Worte nicht mehr aus dem Kopf. Meinte sie, dass Stilton die Arbeit an seinem alten Fall wiederaufnehmen würde? Aber er war doch gar kein Polizist mehr. Er war ein Obdachloser. Wie sollte er da erneut an seinem alten Fall arbeiten können? Mit ihrer Hilfe? Hatte sie es so gemeint? »Ohne Sie wäre er nicht hier gewesen«, diese Worte waren Olivia von ihrem letzten Besuch in Erinnerung geblieben. Außerdem entsann sie sich nur zu gut, dass Stilton bei Abbas ohne mit der Wimper zu zucken ihre Hypothese zu Wendts Verbindung zu dem Mordopfer am Ufer geklaut hatte. Stieg Stilton mit ihrer Hilfe wieder in seinen alten Fall ein?
Obwohl ihr der Kopf
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