Die Springflut: Roman (German Edition)
Abbas sah aus dem Fenster, über den weiten grünen Feldern hingen Nebelschwaden. Erhält man so die Nachricht vom Tode eines Menschen?, dachte er.
In einem Stau?
Olivia fuhr zu ihrer Wohnung, stellte den Wagen ab und ging mit schleppenden Schritten zum Hauseingang. Sie konnte nicht klar denken, es einfach nicht fassen, was passiert war, aber ihre Instinkte funktionierten noch. Als sie den Türcode eintippte und die Haustür öffnete, tat sie es mit der gebotenen Vorsicht. Sie hatte Jackie Berglunds Blick aus dem Taxi und den niedergebrannten Wohnwagen gesehen. War das ihre Rache für das Verhör gewesen?
Es brannte kein Licht im Treppenhaus, aber sie wusste genau, wie weit es bis zum Schalter war. Sie konnte ihn errei chen und mit dem Fuß gleichzeitig die Tür offen halten. Als sie sich nach dem Schalter streckte, zuckte sie zusammen, weil sie aus den Augenwinkeln etwas wahrnahm. Eine dunkle Gestalt an der Treppe. Sie schrie auf und drückte gleichzeitig auf den Knopf. Das Licht fiel auf eine klägliche Gestalt mit versengten Haaren, verbrannten Kleidern und blutenden Armen.
»Tom!?!«
Stilton sah sie an und hustete heftig. Olivia eilte zu ihm und half ihm auf die Beine. Vorsichtig nahmen sie die Treppe zu ihrer Wohnung, wo Stilton sich in der Küche auf einen Stuhl fallen ließ. Olivia rief Abbas an. Der Stau hatte sich inzwischen aufgelöst, und sie waren schon in der Stadt.
»Ist er bei Ihnen?«, sagte Abbas.
»Ja! Rufen Sie bitte Mette an? Ich kann sie nicht erreichen.«
»Okay. Wo wohnen Sie?«
Olivia verband notdürftig seine Schnittwunden, öffnete ein Fenster, um den beißenden Rauchgeruch auszulüften, und versuchte, ihm einen Kaffee anzubieten. Stilton sagte kein Wort. Er ließ sie machen. Der Schock saß ihm noch in den Gliedern. Er wusste, wie knapp es gewesen war. Wenn es ihm nicht gelungen wäre, das Fenster auf der Rückseite mit der Gasflasche einzuschlagen, hätten die Kriminaltechniker jetzt in einem Leichensack ein deformiertes Skelett abtransportieren müssen.
»Danke.«
Stilton nahm ihr mit leicht zittrigen Händen die Kaffeetasse aus der Hand. Panik? Ja, er war in Panik geraten, was vielleicht nicht weiter verwunderlich war, wenn man in einem brennenden Wohnwagen in der Falle saß. Dennoch wusste er, dass seine Panik von etwas anderem ausgelöst worden war. An die Worte seiner Mutter auf ihrem Sterbebett erinnerte er sich nur zu gut.
Olivia setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Stilton musste wieder husten.
»Sie waren in dem Wagen?«, fragte sie schließlich.
»Ja.«
»Aber wie sind Sie …«
»Vergiss es.«
Schon wieder. Olivia gewöhnte sich allmählich daran. Wenn er nicht wollte, dann wollte er eben nicht. Sturkopf. So langsam verstand sie Marianne Boglund. Stilton stellte die Tasse ab und lehnte sich zurück.
»Was denkst du, steckt Jackie Berglund dahinter?«, wollte Olivia wissen.
»Keine Ahnung.«
Sie könnte durchaus etwas damit zu tun haben, dachte er. Vielleicht hatten es aber auch ganz andere Leute getan, die ihm von der Markthalle aus gefolgt waren, aber das ging Olivia nichts an. Wenn er wieder bei Kräften war, würde er Janne Klinga anrufen. Im Moment sorgte der heiße Kaffee jedenfalls dafür, dass sein Atem ruhiger ging. Er merkte, dass Olivia ihn verstohlen ansah. Sie ist hübsch, dachte er. Darüber hatte er sich bisher noch keine Gedanken gemacht.
»Bist du eigentlich mit jemandem zusammen?«, wollte er auf einmal wissen.
Die Frage überraschte Olivia. Bisher hatte Stilton kein Interesse an ihrem Privatleben gezeigt.
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Er grinste, Olivia auch. Plötzlich klingelte ihr Handy. Es war Ulf Molin von der Akademie.
»Hallo?«
»Wie geht es dir?«, sagte er.
»Gut. Was willst du?«
»Mein Alter hat eben angerufen, er hat ein paar Dinge über diesen Tom Stilton gehört, nach dem du gefragt hast, erinnerst du dich?«
»Ja.«
Olivia drehte sich mit dem Handy weg. Stilton beobachtete sie.
»Er lebt offenbar als Penner«, sagte Ulf.
»Aha?«
»Hast du ihn gefunden?«
»Ja.«
»Und, ist er ein Penner?«
»Ein Obdachloser.«
»Okay. Ist das ein Unterschied?«
»Du, kann ich dich vielleicht zurückrufen, ich habe gerade Besuch.«
»Aha? Okay, tu das! Tschüss!«
Stilton hatte begriffen, um wen es in ihrem Telefonat gegangen war. In Olivias Bekanntenkreis gab es außer ihm sicher nicht viele Obdachlose. Er sah sie an, und sie erwiderte seinen Blick. Der Ausdruck in seinen Augen rief ihr plötzlich ihren Vater in
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