Die Springflut: Roman (German Edition)
Küsschen!«
»Küsschen!«
Danach ging es für ein paar Stunden in die Waschküche. Als sie vor der letzten Maschine die Taschen ihrer Kleider leerte, ertastete sie in einer plötzlich eine kleine Plastiktüte. Der Ohrring! Den hatte sie ja völlig vergessen. Der Ohrring von der Insel, den sie sich von Stilton ausgeliehen hatte. Sie holte ihn heraus und sah ihn sich an. Hatte sie nicht einen ganz ähnlichen in Jackie Berglunds Laden gesehen?! Sie setzte sich leicht erregt an ihr Notebook und klickte die Homepage der Boutique an. Unter der Rubrik »Produkte« fand sie ziemlich viel, was Jackie zum Verkauf anbot, darunter auch eine Sammlung von Ohrringen, allerdings keinen, der Olivias ähnelte. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, dachte sie. Der Ohrring von Nordkoster ist immerhin mindestens dreiundzwanzig Jahre alt. Also musste sie ihn wohl irgendwo anders gesehen haben. In einem anderen Geschäft? Oder hatte ihn jemand getragen? Hatte sie ihn bei irgendwem zu Hause gesehen?
Plötzlich fiel es ihr wieder ein!
Es war definitiv nicht in Jackie Berglunds Laden gewesen.
Stilton ging den Vanadisvägen hinunter. Der Regen hatte nachgelassen. Er war auf dem Weg zu Abbas, wo er noch eine Nacht schlafen würde. Dann musste er weitersehen, denn die Situation gefiel ihm nicht. Abbas fand das Arrangement völlig in Ordnung, das wusste er. Aber das war auch nicht sein, sondern Stiltons Problem. Er wollte allein sein. Er wusste, dass er jederzeit furchtbare Albträume bekommen konnte und in seinem Inneren stets der Schrei lauerte. Damit wollte er Abbas nicht belasten.
Nach der Begegnung mit den beiden Burschen im Blecktornspark hatten sie sich getrennt. Vorher hatte Abbas aber noch hören wollen, woher Stilton gewusst hatte, dass sie ausgerechnet dort auftauchen würden?
»Ich habe gemerkt, dass sie mir von der Markthalle gefolgt sind, und dich angerufen.«
»Aber du hast doch im Moment gar kein Handy?«
»Es gibt Tabakgeschäfte.«
Daraufhin waren sie auseinandergegangen. Abbas wollte den Handyfilm hochladen, sie hatten sich von den Tätern die Zugangsdaten zu Trashkick geben lassen. Stilton wollte sich ein neues Handy besorgen, das jetzt in seiner Tasche lag. Abbas hatte ihm das nötige Geld dafür geliehen. Plötzlich hörte er in unmittelbarer Nähe ein seltsames Heulen. Er drehte sich um. Er war allein. Ein weiteres Heulen. Stilton zog sein neues Handy aus der Tasche. Der Klingelton war auf »Fabriksirene« eingestellt.
Er meldete sich.
»Ich bin’s, Olivia! Ich weiß jetzt, wo ich diesen Ohrring schon einmal gesehen habe!«
Stilton brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass Olivia, wie üblich, Mette anrufen musste.
»Jetzt? Aber es ist doch schon ziemlich spät.«
»Polizisten arbeiten rund um die Uhr. Bringt man euch das etwa nicht bei?«
Mette arbeitete nicht rund um die Uhr. Sie arbeitete sehr effektiv und verteilte die Verantwortung anschließend auf mehrere Schultern, was für alle von Vorteil war. Als Olivia sie anrief, war sie deshalb nach einigen Überstunden bereits auf dem Heimweg. Während sie telefonierte, schaffte sie es bis ins Foyer, wo sie jedoch abrupt kehrtmachte. Olivias Informationen zu dem Ohrring hatten bei ihr endlich, nach sechsundzwanzig Jahren, den Groschen fallen lassen.
Sie würde wohl doch noch ein paar Überstunden machen müssen.
Mit schnellen Schritten eilte sie zu ihrem Büro zurück, wo sie eine kleine Abstellkammer öffnete und einen Karton mit der Aufschrift Nils Wendt 1984 heraushob. Mette war niemand, der Akten einfach schredderte. Man wusste nie, ob man sie früher oder später nicht doch noch einmal brauchen würde. Sie öffnete den Karton und suchte einen kleinen Stapel Urlaubsfotos heraus. Mit den Bildern in der Hand ließ sie die Jalousien herunter. Sie schaltete die Schreibtischlampe an, setzte sich und zog eine Schublade heraus, in der eine Lupe lag. Vor ihr lag das Bild von Nils Wendts Leiche aus der Gerichtsmedizin. Mette hielt eines der Urlaubsfotos hoch und studierte es durch die Lupe. Es war 1985 aus einiger Entfernung geknipst worden und ziemlich unscharf. Zu sehen war ein Mann in Shorts. Seine Gesichtszüge ließen sich nicht wirklich identifizieren, aber das Muttermal auf seinem linken Oberschenkel war deutlich zu erkennen. Anschließend warf Mette einen Blick auf die Aufnahme von Wendts Leiche und das Muttermal. Es war mindestens ebenso deutlich zu sehen und identisch mit dem auf dem Urlaubsfoto. Der Mann darauf war Nils Wendt.
Mette lehnte sich
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