Die Springflut: Roman (German Edition)
worden war.
Und jetzt war plötzlich ein neues geschaffen worden, von dem Bertil noch nicht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte. Wenn es Probleme gab, rief er normalerweise irgend jemanden an, und anschließend wurde das Problem aus dem Weg geräumt. Im Laufe der Jahre hatte er eine ganze Reihe von Machthabern in der ganzen Welt angerufen und auf diese Art zahlreiche Probleme aus dem Weg räumen lassen. Diesmal konnte er jedoch niemanden anrufen. Stattdessen wurde er selbst angerufen.
Er hasste diese Situation.
Und er hasste Nils Wendt.
Als er sich umwandte, sah er, dass seine Frau am Schlafzimmerfenster stand und ihn beobachtete.
Blitzschnell versteckte er den Zigarillo hinter seinem Rücken.
*
Vera wurde von einem unbekannten Geräusch geweckt, das in ihren Schlaf eindrang und sie veranlasste, sich auf den Ellbogen zu stützen. Die Pritsche neben ihr war leer. Kam das Geräusch von Jelle? Pinkelte er draußen? Vera stand auf und hüllte ihren warmen, nackten Körper in die Decke, mit der Jelle sie zugedeckt haben musste, nachdem sie sich geliebt hatten. Denn das war es, was sie getan hatten. Sie hatten sich geliebt. So empfand Vera es, und das wärmte ihre gemarterte Seele. Es hätte auch danebengehen können, aber es hatte sich vollkommen richtig angefühlt. Sie lächelte und wusste, dass sie in dieser Nacht nicht von dem Schlüsselbund träumen würde. Dann öffnete sie die Tür.
Der Schlag traf sie mitten ins Gesicht.
Vera wurde zurückgeschleudert und fiel gegen die Pritsche. Aus Mund und Nase schoss Blut. Einer der Männer war in den Wohnwagen eingedrungen, bevor sie wieder auf den Beinen war, und schlug ein zweites Mal zu, aber Vera war hart im Nehmen. Sie warf sich zur Seite, rappelte sich mit wild fuchtelnden Armen auf und schlug selber zu. Der enge Raum machte den Kampf chaotisch. Der Angreifer schlug, und Vera schlug zurück, und als der zweite Bursche mit laufender Handykamera hereinkam, wurde ihm schnell klar, dass er seinem Freund helfen musste, die Alte niederzuschlagen.
Daraufhin kämpften sie zu zweit gegen Vera, und das war einer zu viel. Und da sie heftig austeilte, musste sie auch heftig einstecken. Es dauerte fast zehn Minuten, bis ein harter Schlag mit der Gasflasche ihr Nasenbein traf und sie zu Boden ging. Zwei Minuten später hatten die Männer sie bewusstlos getreten. Als sie schließlich reglos und mit nacktem und blutverschmiertem Körper auf dem Boden lag, begann einer der beiden wieder zu filmen.
Einige Kilometer entfernt saß ein einsamer Mann auf dem Fußboden eines baufälligen Holzschuppens und rang mit seiner Erbärmlichkeit. Wie eine Ratte war er einfach abgehauen. Ihm war klar, wie Vera sich fühlen würde, wenn sie aufwachte, und wie sie ihn bei ihrer nächsten Begegnung ansehen würde, und dann würde er ihr keine gute Erklärung geben können. Er würde ihr überhaupt keine Erklärung geben können.
Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie sich überhaupt nicht begegneten.
Dachte Jelle.
E in paar einsame Blätter aus dem Vorjahr trieben in der leichten Brise über die Erde, zwischen den Bäumen sah man das Wasser der Bucht glitzern, und in der entgegengesetzten Richtung lagen Hügel und Wald, und irgendwo dort gab es eine Lichtung, an der die Stadt eine Joggingstrecke anlegen wollte.
Sobald man diesen schäbigen Wohnwagen los sein würde.
Arvo Pärt humpelte durch das Wäldchen oberhalb des Wassers. Er hatte schwere Beine. Muskelkater. Das Fußballspiel hatte Spuren hinterlassen. Dennoch wogen zwei Tore leichte körperliche Schmerzen mühelos auf, deshalb wollte er nicht zu Vera. Es ging um einen anderen Schmerz. Irgendwann in der Nacht hatte er am See Trekanten unerwartet einen Typen getroffen, und sie hatten gemeinsam ein paar wohlschmeckende Dosen Bier geleert, bis dieser Typ plötzlich einen Wutanfall bekommen hatte.
»Du bist doch gar nicht dieser verdammte Arvo Pärt!«
»Was zum Teufel meinst du?«
»Arvo Pärt komponiert Musik und ist berühmt, also warum, verdammte Scheiße noch mal, sagst du, dass du Arvo Pärt heißt?! Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?!«
Arvo Pärt, der vor ziemlich langer Zeit und ziemlich gründlich verdrängt hatte, dass er Silon Karp hieß, war erst richtig wütend geworden, hatte dann einen Schlag aufs Maul bekommen und am Ende geweint. Warum durfte er nicht Arvo Pärt sein? Er war es doch?!
Jetzt humpelte er zum Wohnwagen der einäugigen Vera. Er wusste, dass sie ihn trösten würde, denn Vera beherrschte die
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