Die Springflut: Roman (German Edition)
mit dem Nerz hatte er längst vergessen. Nun war er ganz auf den grauen Wohnwagen konzentriert und versuchte, sich für die Konfrontation mit ihm zu stählen. Er hatte beschlossen, dort fürs Erste einzuziehen.
Er wusste, dass die Spurensicherung ihre Untersuchung des Tatorts abgeschlossen hatte und die Stadt den Wagen fortschaffen wollte, aber der Mord an Vera hatte Sand in das Getriebe der Bürokratie gestreut, so dass der Wagen noch an seinem angestammten Platz stand.
Solange er dort blieb, wollte Stilton in ihm wohnen.
Falls er dazu in der Lage sein sollte.
Am Anfang war es nicht leicht. Der Anblick der Pritsche, auf der sie sich geliebt hatten, reichte schon aus, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Trotzdem stellte er den Karton auf dem Boden ab und setzte sich auf die andere Pritsche. Hier drinnen war es wenigstens trocken. Eine Lampe, Liegen, und mit einer neuen Gasflasche und etwas Fummelei würde er den Gaskocher schon wieder in Gang bekommen. Die Ameisenstraßen waren ihm egal. Er schaute sich um. Die Polizei hatte den größten Teil von Veras persönlicher Habe mitgenommen, unter anderem auch die Abbildung einer Harpune, die er einmal gezeichnet hatte. Hier, an diesem Tisch, als Vera von ihm wissen wollte, wie seine Kindheit gewesen war.
»Wie eine Harpune?«
»So ungefähr.«
Er hatte ihr von der Schäreninsel Rödlöga erzählt. Wie es war, bei einer Großmutter aufzuwachsen, die noch eigene Erinnerungen an die Robbenjagden und Wrackplünderungen früherer Zeiten hatte. Vera hatte jedes Wort gierig aufgesogen.
»Das klingt nach einer guten Kindheit. Oder?«
»Sie war gut.«
Mehr brauchte sie nicht zu wissen. Mehr wusste außer Mette und Mårten Olsäter und seiner Exfrau keiner. Das waren alle.
Nicht einmal Abbas el Fassi wusste mehr.
In diesem Moment saß Rune Forss wahrscheinlich in irgendeinem neongelben Polizeibüro, betrachtete eine Zeichnung von einer Harpune und fragte sich, ob sie in einem Zusammenhang zu dem Mord an Vera Larsson stand. Stilton musste innerlich grinsen. Forss war ein Idiot. Er würde den Mord an Vera niemals aufklären, es nicht einmal versuchen. Er würde seine Stunden absitzen und seine Berichte zusammenstellen, und anschließend würde er seine wurstigen Finger in die Löcher einer Bowlingkugel zwängen.
Das war es, was ihm am Herzen lag.
Stilton streckte sich auf der Pritsche und setzte sich wieder auf.
Leicht fiel es ihm nicht, den Wagen zu übernehmen. Er sah und spürte noch Veras Anwesenheit. Das weggewischte Blut auf dem Fußboden hatte Spuren hinterlassen. Er stand auf und schlug mit Wucht gegen die Wand.
Und betrachtete erneut die Blutspuren.
Rache hatte in seinem Denken eigentlich nie eine Rolle gespielt. Als Mordermittler hatte er ein distanziertes Verhältnis zu Opfern und Tätern gepflegt. In seltenen Fällen hatten ihn höchstens die Angehörigen berührt. Nichts Böses ahnende Leute, in deren Herzen plötzlich der Blitz einschlug. Er erinnerte sich noch, dass er einmal an einem frühen Morgen eine alleinerziehende Mutter wecken musste, um ihr mitzuteilen, dass ihr einziger Sohn soeben drei Morde gestanden hatte.
»Mein Sohn?«
»Sie haben einen Sohn namens Lage Svensson?«
»Ja? Was haben Sie gesagt, was soll er getan haben?!«
Diese Art von Gesprächen war ihm nicht so schnell aus dem Kopf gegangen.
Aber Rache war nie ein Thema gewesen.
Bis zu Veras Tod. Das war etwas anderes.
Er ließ sich wieder auf die Pritsche zurücksinken und blickte zur schmutzigen Decke hoch. Regen klatschte auf die rissige Plexiglaswölbung. Langsam ließ er Dinge in seine Gedanken einfließen, die er sonst die meiste Zeit verdrängte.
Wie war er hier gelandet?
An einem Ort mit Ameisenstraßen und einer weggewischten Blutlache und mit einem Körper, der fast am Ende war?
In einem Wohnwagen?
Er wusste und würde niemals vergessen, was sechs Jahre zuvor der Auslöser gewesen war: die letzten Worte seiner Mutter. Dennoch hatte es ihn verblüfft, wie schnell es gegangen war, sich fallen zu lassen. Wie leicht es gewesen war, als er sich einmal dazu entschlossen hatte. Wie schnell und zielstrebig er sich hatte gehen lassen und alles aufgegeben hatte, was er aufgeben konnte, und alles dafür getan hatte, immer tiefer zu sinken. Damals hatte er gemerkt, wie leicht eins das andere ergab, wie problemlos es möglich war, zu verzichten, abzuschalten, abzuschneiden. Wie leicht es einem fiel, in diesen total anspruchslosen, vegetativen Zustand abzurutschen.
In die
Weitere Kostenlose Bücher