Die Spur der verlorenen Kinder
baten Janis um Autogramme, und innerhalb von Minuten war sie von Fans umgeben. Mira und Jake traten beiseite. »Das waren ziemlich präzise Informationen, die du ihr gegeben hast«, bemerkte er.
»So ist das bei manchen Leuten.«
»Entschuldige, Mira, aber ich habe Dreijährige getroffen, die besser lügen können als du.«
In diesem Moment schienen die Hitze und die Schwüle extrem. Das Summen kehrte in ihren Kopf zurück und drohte etwas viel Schlimmeres zu werden, vielleicht sogar ein Stufe-vier-Gekreische. »Ich kann dir nicht die ganze Wahrheit sagen.« Das Summen nahm ein wenig ab, eine Welle, die den Strand hoch- und herunterrollte.
»Bist du bei den Drogenfahndern? Ist es das?«
»Drogenfahndung?« Sie lachte schallend. Man hatte sie schon vieles geheißen – Satanistin, Hexe, Verrückte, geistig instabil, Betrügerin, durchgeknallt, sogar böse. Aber noch nie hatte ihr jemand vorgeworfen, eine Drogenfahnderin zu sein. Aber dies waren die Sixties, und in dieser Welt waren Leute wie Janis und Jake Revolutionäre und nahmen schon aus Prinzip Drogen. Man konsumierte Drogen, kaum dass man morgens aufwachte. »Nein, ich bin ganz sicher keine Drogenfahnderin.«
»Was zum Teufel bist du dann?«
»Eine Hellseherin, die von ihrem Ex verfolgt wird.«
»Warum hast du dann Sheriff Fontaine angelogen, was deinen Nachnamen angeht?«
»Weil mein Nachname ihn nichts angeht.«
Er schaute sie noch einen Augenblick an, dann zuckte er mit den Achseln. »Tut mir leid. Ich bin ein misstrauischer Sack.«
»Das darfst du ruhig sein.« Sie holte die 100 Dollar hervor, die er ihr für die Lesung gegeben hatte, und streckte sie ihm hin. »Nimm das bitte. Und hast du einen Zettel und einen Stift, Jake?«
Er nahm das Geld und zog aus seiner Kameratasche einen Block und einen Stift. Mira dachte einen Augenblick nach, dann schrieb sie die Namen von einem Dutzend Musiker auf, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren berühmt würden. »Achte auf diese Leute. Sie alle werden berühmt werden. Fotografiere sie. Beginn dein Portfolio mit Janis und ihren Kontakten. Der Rest kommt von allein.«
Er steckte den Notizblock wieder in seine Tasche und sah sie erneut länger als nötig an. Viele Gefühle standen zwischen ihnen, aber keiner sagte noch etwas. Wenn er in ihrer Zeit noch am Leben wäre, wäre er jetzt siebenundsechzig.
»Woher kennst du Janis?«, fragte sie.
»Wir sind aus derselben Gegend in Port Arthur, Texas. Unsere Eltern kannten einander. Sie ist ein guter Typ.« Er machte eine Pause, dann setzte er hinzu: »Wie du.«
»Jake-o«, sagte Janis und kam auf ihn zu, »lass uns fahren. Ich muss mein Flugzeug kriegen.«
»Sie spielt heute in Kalifornien«, sagte Jake.
»Ich werde daran denken, was du gesagt hast«, sagte Janis zu ihr. »Mir gefällt die Vorstellung, im 21. Jahrhundert noch am Leben zu sein.«
»Gut. Und ich kann dir gar nicht genug danken für deinen Wagen.«
Janis warf sich die Federboa über die Schulter, zog ihre Mütze über das Haar, setzte ihre Brille auf. »Wir müssen los.« Sie nahm Jakes Hand, und sie gingen durch die Leute hindurch, die um Jakes VW herumstanden, stiegen ein und fuhren davon.
Mira fuhr mit dem psychedelischen VW in der Dämmerung los, eine Tageszeit, zu der ihre Fähigkeiten normalerweise stärker waren, ihre Eindrücke klarer. Heute war ein guter Tag gewesen, also würde es vielleicht am Abend sogar noch besser laufen. Sie hatte Annies Friedenszeichen, ihren Leitstern, in der linken Hand. Das Summen, das den ganzen Tag durch ihren Kopf gehallt war, zog sich weiter zurück, und ihre innere Welt fühlte sich dadurch beinahe eigenartig still an.
Der Käfer fuhr prima, nur dann und wann überkamen sie blitzartig Einblicke in Joplins Leben. Zum Beispiel, als sie ihre Hände auf das Steuer gelegt hatte, hatte sie Janis und Jake lachen gehört. Als sie das Handschuhfach öffnete, sah sie plötzlich ein Bild von Janis vor sich, die dasselbe tat, und mehrere Joints herausnahm. Es lenkte sie ab.
Sie kurbelte die Fenster herunter und bog auf die Old Post Road. Zu ihrer Zeit standen an der Straße Häuser und ganze Wohnanlagen. Ja, sie waren geschmackvoll erbaut und mit großzügigen Gärten umgeben, aber die waldige Wildnis hier nahm ihr den Atem. Die Pinien schienen bis in den Himmel zu wachsen. Die langen, dicken Wedel der Palmen klackten im Wind wie Kastagnetten.
In der Ferne konnte sie das glitzernde Blau der Bay sehen – ununterbrochen von der Brücke, die sie in ihrer
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