Die Spur der verlorenen Kinder
Sie hoffte, dass jemand für ein paar hundert Dollar einen verkaufen wollte.
Sie war in dem Elektrowagen jede Straße der Insel entlanggefahren. Es hatte ewig gedauert und nichts gebracht. Mira sorgte sich, dass das Monster Annie woanders hingebracht hatte – oder sie umgebracht hat, denk nicht daran, sie lebt noch, du weißt es – oder dass sie doch in der falschen Zeitzone war. Wäre das nicht ein Witz festzustellen, dass sie durch ein Zeitportal in die Vergangenheit gerutscht war, nur um am Ende herauszubekommen, dass ihre Tochter gar nicht dort war und sie sich in Wirklichkeit in einer Psychoklinik befand und die ganze Geschichte bloß das Ergebnis einer kompletten Fehlzündung ihrer Synapsen war?
Am Morgen des 24. Juni wartete sie darauf, dass ihr erster Klient kam, die Tür zur Hütte stand halb offen, als jemand klopfte und fragte: »Mira? Hast du ein paar Minuten?«
Sie sah sich um, und da stand Jake mit einer Frau mit wildem Haar. Es stand an allen Seiten von ihrem Kopf ab, nur oben war es durch einen Stoffhut plattgedrückt. Das zweite, was Mira an ihr auffiel, war der ganze Rest – das knöchellange psychedelische Kleid, die Finger voller Ringe, das Friedenszeichen um den Hals, eine Federboa, bei deren Anblick Mira bereits niesen wollte. Ihre Augen verbargen sich hinter einer sehr dunklen Sonnenbrille.
»Hey, Jake. Kommt rein. Der Kaffee ist noch heiß.«
Jake schloss die Tür und kam in die Hütte, seine Pupillen waren riesengroß. Er war offensichtlich total zugekifft, dachte Mira, und fragte sich, was er genommen hatte. »Mira«, sagte er noch einmal und begann, dann schallend zu lachen, er krümmte sich und schlug mit seinen Händen auf die Oberschenkel. »Das ist Pearl.«
»Hi«, sagte die Frau mit der Boa, und ihre raue Stimme zeugte von Zigaretten, dicken Joints und langen, durchsoffenen Nächten. »Tut mir leid, dass wir so reinplatzen. Jake hat geschworen, es wäre okay.«
»Ihr stört überhaupt nicht«, sagte Mira. »Ich habe übrigens Asche, Jake. Was ich dir schulde mit Zinsen.« Sie öffnete eine Schublade und zog vier Fünfziger heraus, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden. »Ich kann dir gar nicht genug danken.«
»Gott verdammt.« Er rieb die Scheine zwischen Daumen und Zeigefinger, als wollte er ihre Textur überprüfen. »Ich finde, davon lassen wir deine Zukunft voraussagen, Pearl. Wie wäre das? Ich meine, wenn Mira Zeit hat.«
»Klar habe ich Zeit.«
»Ich habe gehört, wie unglaublich gut du sein sollst«, fuhr Jake fort. »Und ich habe Pearl davon erzählt, und sie hat sich gefragt, ob du bereit wärst, sie zu lesen.«
Sie setzten sich nebeneinander an den Küchentisch, Mira ihnen gegenüber. Sie bat Jake, etwas von Pearl und ihr abzurücken, damit sie sein Kraftfeld nicht mit Pearls durcheinanderbrachte. Pearl, die genauso zugekifft zu sein schien wie Jake, beugte sich vor und streckte ihre Hand aus. »Übrigens, nett dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls«, sagte Mira und schüttelte ihr die Hand.
Großer Fehler.
Was sie sah, war die reine Kraft eines derart großen kreativen Talents, dass sie es gar nicht erfassen, nicht übersetzen konnte. Es gab keine Sprache für ein solches Talent, einen solchen Drive, die Energie. Die Intensität ihrer Begabung würde jemand anders verbrennen lassen, aber es war der Nährstoff dieser Frau. Es schwächte sie nicht. Es ließ sie durchhalten. Ihre Stimme würde durch die Zeit hallen, eine Stimme, die Fachleute, Kritiker und Fans bemängeln, hassen und lieben würden. Aber ob man sie nun liebte oder hasste, die emotionale Kraft dieser Frau würde alle diese Menschen in ihrem tiefsten Inneren ansprechen, und das für viele Jahre, bis in Miras eigene Zeit hinein.
Sie würde die Rebellion der Sechziger personifizieren.
»Ist bei mir alles leer, oder wie?«, fragte die Frau schließlich, und Mira wurde klar, dass sie ihre Hand gepackt hielt und kein Wort gesagt hatte.
»Ich … ich habe an etwas gedacht. Ich …« Sie ließ die Hand der Frau los und lehnte sich zurück. »Hör mal, normalerweise sehe ich so etwas nicht. Du bist berühmt. Du wirst lange berühmt sein. Du wirst zu einer Legende, weil …«
Warum?
Sie stirbt. Drogen. L.A. Hendrix. Woodstock. Heroin. Auf Wiedersehen.
Mira beugte sich vor und nahm der Frau vorsichtig die Sonnenbrille ab. Sie wusste, dass ihr Atem sich veränderte, sie spürte es, die Luft verließ ihre Lungen. Ihr Herz pochte in ihrer Brust. »Du bist Janis Joplin.«
Sie flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher