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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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eigenen Zeit überspannte. Zwei Fähren dampften einander in unterschiedlichen Richtungen über das Wasser entgegen, und das lange, sehnsuchtsvolle Pfeifen einer von ihnen hallte zu ihr herüber.
    In ihrer Zeit waren die Fähren vor allem für Touristen, transportierten aber auch immer noch manches Schwergut zwischen Tango und Key West hin und her. Als sie und Annie zum ersten Mal mit einer der Fähren gefahren waren, hatte sie zwei enge Freundinnen aus ihrer alten Nachbarschaft in Lauderdale dabei. Die Mädchen waren letzten Sommer wiedergekommen. Annie hatte sie seitdem noch einmal gesehen, doch die Freundschaften bröckelten mit der Zeit, und Annie hatte keine neuen Freunde, die nah genug wohnten, um sie zu ersetzen. Das Trauma der Mittelschule, dachte Mira.
    Vielleicht war es die Erinnerung, vielleicht auch die Tiefe ihres Bedürfnisses, aber plötzlich fühlte sich das Friedenszeichen wie ein brüllend heißes Brandeisen in Miras Hand an. Der Sog, der Augenblicke später auftrat, und anders konnte sie es nicht beschreiben, ein Sog, als hätten unsichtbare Finger ihre Hand gepackt und zerrten daran – führte nach rechts. Aber rechts von ihr war nichts außer Weideland und dahinter Unterholz, aus dem sich Pinien in den Himmel reckten.
    Mira hielt am Straßenrand, schaltete die Scheinwerfer aus. Sie schob ihre Finger ineinander wie ein Betender, das Friedenszeichen zwischen den Handflächen, und schloss die Augen. Zeig mir den Weg zu Annie.
    Das Summen blieb konstant, erträglich, unverändert. Aber das Friedenszeichen wurde deutlich heißer. Mira warf sich den Rucksack über die Schulter, zog die Taschenlampe zwischen den Sitzen heraus, wo sie sie vorhin festgeklemmt hatte, und stieg aus dem Wagen. Sie wünschte sich plötzlich, dass dieser komische kleine Vogel aus dem Nichts käme und auf ihrer Schulter landen würde. Aber sie hörte seinen Schrei nicht durch die Dämmerung hallen. Sie hörte bloß den Wind, der durch die Bäume hinter ihr raschelte.
    Sie hielt das Friedenszeichen wieder zwischen den Handflächen, überrascht stellte sie fest, dass es jetzt kühl war. Annie und sie hatten oft mit so etwas herumexperimentiert und waren zu dem Schluss gekommen, dass die Gegenstände sich manchmal wirklich erhitzten, andere Male war das Gefühl von Hitze oder Kälte bloß eine Täuschung, die im Geist entstand. Wie auch immer, die Hitze war ein Signal, das hieß: Folge mir.
    Die Hitze kehrte langsam zurück, und Mira ging auf den Zaun zu, der die Weide umgab. Als sie danebenstand, hörte sie ein leises Summen, nicht viel anders als das Summen, das in ihrem Schädel ertönte. Sie erkannte, dass der Zaun nicht nur aus vier horizontalen Brettern bestand, obenauf fanden sich zwei kleine Elektrokabel.
    Mira quetschte sich zwischen den beiden untersten Brettern hindurch, sie hielt das Friedenszeichen jetzt fest in der Linken, und auf der anderen Seite des Zauns blieb sie stehen, um sich zu orientieren. Das Zeichen war immer noch warm, schien aber keinen Hinweis darauf zu geben, in welche Richtung sie gehen sollte.
    Verzweiflung breitete sich in ihr aus, ein Waisenkind ohne Hoffnung. Daher formte sie ihren Körper zu einer Art übersinnlichem Blitzableiter. Als die Muskeln in ihren Beinen und Füßen zu zittern begannen, begriff ihr Hirn endlich und befahl ihnen, sich zu rühren. Und sie rührten sich, sie rührten sich so schnell, dass der Rest ihres Körpers Mühe hatte mitzukommen.
    Sie rannte quer über die Weide, vorbei an Kühen, die zusammenstanden wie Gänseblümchen, durch Gras, das immer höher und wilder wurde. Die Nachtluft strich über ihre Wangen, der Duft von Salz und Meer stach in ihre Nasenlöcher. In ihrer linken Hand wurde das Friedenszeichen heiß, heißer.
    Als sie das Unterholz am Ende der Weide erreichte, führten ihre Füße sie weiter, und sie wandte sich abrupt nach links. Wie ein Blitzschlag traf sie die Energie ihrer Tochter. Sie glaubte, Jimi Hendrix singen hören zu können: ’ Scuse me, while I kiss the sky’ … Dann stolperte sie plötzlich und stürzte nach vorn, sie landete mit ausgebreiteten Armen ungeschickt im hohen Gras. Die Luft fuhr aus ihren Lungen. Sie lag einfach nur da, ihre Finger gruben sich wie Klauen in das Gras, in den Boden, als käme Annies Energie von dort unten.
    Weg, es ist weg.
    Sie hatte das Friedenszeichen verloren, sodass die Verbindung zu ihrer Tochter unterbrochen worden war.
    Mira stützte sich auf Hände und Knie und krabbelte, während sie vor Frustration

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