Die Spur der verlorenen Kinder
verschwinden scheinen, und es gibt kein Boot, nicht einmal eine kaputte Planke. Also habe ich mir noch einmal die Satellitenfotos von der Florida Bay von gestern Abend zwischen 18:30 Uhr – kurz bevor du mit Mira gesprochen hast – und 21:00 Uhr angeschaut. Sieh mal.«
Sie rief Satellitenbilder von der Bay auf, die im Abstand von fünfzehn Minuten über einen Zeitraum von zweieinhalb Stunden hinweg aufgenommen worden waren. Das schwarze Wasser war rot eingefärbt. Es hatte eine längliche Form, begann zwei oder drei Kilometer südlich von Little Horse Key und war vielleicht acht Kilometer lang. Das Feld war so unregelmäßig geformt, dass es Sheppard wie ein Korridor oder Flur vorkam, den jemand unter Drogen gebaut hatte.
Tina ließ auf jedem der Bilder die Längen- und Breitengrade anzeigen. »Was ich vor allem merkwürdig finde an diesem Feld«, fuhr sie fort, »ist, dass es auf einer ganz präzisen geografischen Position verharrt, trotz der Strömungen weicht es kaum von diesen Koordinaten ab.«
Das angezeigte Gitter machte es ihnen leicht zu sehen, was sie meinte. Über zwei Stunden blieb das Feld zwischen 81W5001, 24N5001 und 81W5010, 24N5010. »Siehst du?«, sagte Goot und sah Sheppard an. »Ich wusste doch, dass an diesem Feld etwas komisch ist.«
»Wo ist es jetzt?«, fragte Sheppard Tina.
»So sah es heute Morgen bei Sonnenaufgang aus.« Tina rief ein weiteres Satellitenbild auf, auch dieses mit einem Koordinatengitter.
»Es ist in zwei Teile zerfallen«, bemerkte Goot.
»Ich war heute Morgen in dem kleineren Teil«, sagte Sheppard. »Es hat etwas andere Koordinaten, aber ist dicht genug dran an dem Feld von letzter Nacht. Vielleicht hast du da etwas entdeckt, Tina.«
»Aber ich wüsste nicht, was. Ich bin Ärztin, keine Meeresbiologin. Es ist bloß eine dieser Kuriositäten, auf die man hinweist, um zu sehen, ob dabei etwas herauskommt. Während ihr zwei darüber nachdenkt, bringe ich deine Wasserprobe runter ins Labor, Shep. Oh, übrigens, habt ihr vor, die Polizei vor Ort hinzuzuziehen?«
»Wir werden sie informieren müssen«, sagte Sheppard. »Aber im Moment brauchen wir ihre Hilfe nicht.«
Und mit ein bisschen Glück würden sie auch in naher Zukunft ihre Hilfe nicht brauchen.
2
Patrick Wheaton stand lange unter dem heißen Strahl der Dusche, er ließ das Wasser jeden Rest von Schmutz auf seinem Körper entfernen.
Es hatte eine Zeit gegeben, als sich Salzwasser auf seiner Haut wie das Paradies angefühlt hatte; jetzt war das Salz bloß klebrig, dreckig, äußerst unangenehm. Abgesehen vom Salz hatte Annie auf ihn gekotzt, als sie noch im Boot waren, und der Gestank klebte jetzt an seiner Haut, an den Härchen auf seinen Armen, in den Falten auf seinen Handrücken. Der Gestank drang zu ihm hoch von dem Haufen seiner schmutzigen Kleidung auf der Badematte. Er waberte durch den Dampf in der Duschkabine, und Wheaton konnte es jetzt nicht mehr ertragen. Er trat aus der Dusche, Wasser tropfte auf die Matte und den Boden, er nahm die Kleidung hoch, als befände sich darin ein Nest Vipern, und warf sie in den Wäschebehälter, der an der Wand stand.
Das musste vorerst genügen, dachte er, und stellte sich wieder unter die Dusche. Aber wenn er sauber und seine Haut makellos rein war, musste er die Sachen loswerden. Endgültig. Vielleicht verbrennen. Er konnte die Vorstellung dieser vollgekotzten Sachen in seinem Haus nicht ertragen. Es gab eine Stelle hinten, wo er dreckiges Zeug verbrannte. Ein Grab für Keime, so stellte er sich das vor. Dorthin würden die Sachen wandern.
Über die Jahre hatte er Schuhe, Hemden, Hosen, Socken, Unterwäsche, Haarbürsten, Laken, Kissen, Handtücher, Küchentücher und Schwämme verbrannt. Er hatte dreckiges Zeug verbrannt, das voller Keime war, an dem sie klebten so wie das Sonnenlicht an einem Spiegel klebte. Und wenn das Feuer bloß noch Asche war, hatte er die Reste eingesammelt, die nicht verbrannt waren, und in den Müll geworfen.
Manchmal konnte man Keimen mit Chlorox Herr werden. Doch meistens half nur ein Feuer.
Es war nicht immer so gewesen. Er konnte sich an eine Zeit erinnern, in der er gelebt hatte wie jeder andere, eine Mischung aus Chaos und Ordnung, aus Leidenschaft und Gleichgültigkeit, ein normales Leben mit einem normalen Job, mit einer Frau, Verantwortung, und am Montag musste man den Müll rausstellen. An all das konnte er sich erinnern. Doch die Erinnerungen verblassten mit den Jahren, und an manchen Tagen, so viel wusste er, sah er
Weitere Kostenlose Bücher