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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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jedenfalls die Einzelheiten dieses Lebens nicht mehr genau vor sich.
    Der Korridor hatte sein Leben geteilt in vorher und nachher. Und diese Trennung, dachte er, während er sich intensiv und gnadenlos abseifte, war ordentlich und perfekt, als hätte man einen Apfel mit einem großen Messer zerteilt. Vorher war er normal gewesen. Jetzt war er alles, nur das nicht.
    Denk nicht darüber nach. Werd bloß die Keime los.
    Lange Zeit später drehte er das Wasser ab, trat aus der dampfenden Duschkabine auf die Badematte und trocknete sich ab. Das Handtuch war frei von Keimen. Es war mit Bleichmittel gewaschen und dann auf einer Leine, die er mit Alkohol sterilisiert hatte, getrocknet worden. Er drückte es an sein Gesicht und atmete die süße Sauberkeit ein, die Schönheit der Reinheit. Er rieb sich das Haar, legte sich das Handtuch um die Hüfte und ging hinaus in sein Schlafzimmer.
    Er setzte sich auf das Bett und starrte das Telefon an.
    Würde sie wach sein?
    Er steht an einem kühlen Dezemberabend neben ihr und sieht sie schlafen. Ihr weiches, helles Haar auf den Kissen ausgebreitet. Sie hat die Decke weggestrampelt, und ihre langen, perfekt geformten Beine liegen reglos in einem Mondstrahl. Er will sie so sehr berühren, mit seiner Hand über ihre Waden fahren, ihre Schenkel, die scharfe Kurve ihrer Hüfte.
    Stattdessen beugt er sich vor und legt seinen Mund hauchzart an ihre Wange. Sie regt sich, und er tritt eilig zurück in die Schatten.
    Er griff nach dem Hörer, wählte die Nummer. Sie meldete sich nach dem vierten Klingeln, ihre Stimme war sanft und rauchig. »Hallo?«
    Wheaton kniff die Augen zusammen, nahm den Klang ihrer Stimme in sich auf, die Musikalität, die Bekanntheit. Evie, es dauert nicht mehr lange.
    »Hallo? Wer ist da?«
    Deine Vergangenheit, Evie.
    Dann legte er den Hörer wieder auf die Gabel.

3
    One World Books befand sich an einer pinienbewachsenen Ecke, einen Block nördlich des Anlegers von Tango am Südende der Insel. Es war ein einstöckiges kastenförmiges Betongebäude in der Farbe reifer Mangos, mit dunklen Holzläden auf beiden Seiten der vielen Fenster. Direkt hinter dem Tor explodierte der Garten in knalligen Tönen – Bougainvillearanken mit kleinen, zarten Blüten in der Farbe von Blut, Japanische Scheinmyrthe mit dunkellila Knospen, Springbrunnenpflanzen mit leuchtend orangenen schlanken Blüten. Eine leichte Brise brachte das Windspiel auf der vorderen Veranda zum Klingen. Auf der Fußmatte waren zwei sich küssende Frösche abgebildet.
    Obwohl es noch sehr früh war, stand Nadines uralter Mercedes bereits in der Auffahrt. Das überraschte Sheppard nicht; er vermutete, dass auch sie schlecht geschlafen hatte. »Bist du sicher, es ist in Ordnung, wenn wir hier arbeiten?«, fragte Goot. »Es sieht nicht so aus, als hätte Nadine schon aufgemacht.«
    »Ich bin sicher.«
    Er klingelte und drehte den Türknauf, dann gingen Goot und er hinein. Einen Augenblick stand Sheppard einfach nur da und inhalierte sozusagen Mira, und er war sicher, dass er jetzt genau hier sein musste. Ihr Wesen durchdrang jedes Luftmolekül, jeden Quadratzentimeter des Raumes. Von der Buchauswahl in den Regalen über die Kaffeesorten und Esswaren im Café bis zu den tropischen Pflanzen und den mexikanischen Bodenfliesen war der Buchladen wie das Innere von Miras Kopf. Oder zumindest ein Teil von Miras Kopf. Es gab andere Teile ihres Kopfes, ihres Wesens, die ihm völlig unbekannt waren, düstere Räume, die er nicht betreten konnte, Fenster, die er nicht öffnen konnte, Türen, die für ihn verschlossen waren, Rätsel, zu denen er keinen Zugang fand.
    »Nadine?«, rief er.
    »Komm rein, Shep«, rief sie. »Ich mache gerade Kaffee.«
    Sie stand hinter dem Tresen des Besucher-Cafés, sie trug eine schwarze Yogahose und ein T-Shirt mit einer Yogaübung vorne drauf und darunter das Wort: Genieße deine Yogareise. Ihr grau meliertes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, sodass die scharfen Winkel ihrer Wangenknochen zu sehen waren, die strengen Kanten ihres Kiefers, die Angst und Müdigkeit, die sich in den äußeren Winkeln ihrer dunklen Augen zeigten. »Juanito«, rief sie, als sie Goot sah, und eilte um ihren Tresen herum, um ihn zur Begrüßung zu umarmen. » Cómo andas, mí amor? «
    Sie taten, als hätten sie sich nicht erst am Abend zuvor gesehen, dachte Sheppard, und plötzlich wurde ihm klar, dass diese beiden durch ihr kubanisches Blut miteinander verbunden waren. Es war ein Kreis, in den

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